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Kirche in WDR 3 | 28.09.2023 | 07:50 Uhr
Die zersetzende Kraft des Verurteilens
Ich möchte Sie einladen, wirklich einen Augenblick einladen, innezuhalten und diesen Satz der Braut über ihren Mann auf sich wirken zu lassen: „Er urteilt wirklich nie über andere Menschen. Er verurteilt niemanden.“
Wie heilsam ist eine solche Haltung und das Verhalten, das daraus entspringt!
Je länger ich mich auf dem Weg der Nachfolge als Christ mühe, umso mehr ahne ich, dass mein Christsein nicht mit dem beginnt, was ich tue, sondern mit den Grundhaltungen, die in mir lebendig sind und ich die ich pflege – oder aus fehlender Achtsamkeit nicht.
Und so eine Grundhaltung ist: Nicht-Verurteilen,
wohlwollend und aufmerksam sein für die Möglichkeiten eines Menschen. Zumindest
finde ich das bei Jesus, wie die Evangelien ihn uns nahebringen. Ganz
ausdrücklich sagt Jesus der sogenannten Ehebrecherin: „Ich verurteile Dich nicht“.
Oder wenn er sich beim Zöllner Zachäus einlädt, anstatt ihn öffentlich zu
maßregeln, wie es die Umstehenden erwarten – dann spüre ich da dieses
allumfassende Wohlwollen Anderen gegenüber. Und schließlich begegnet mir diese
Haltung, wenn er als Auferstandener seinen Aposteln weiter vertraut und sie zu
den Menschen sendet, obwohl diese ihn bei der
Kreuzigung wirklich auf ganzer Linie im Stich gelassen haben – anders
als die Frauen übrigens.
Wenn ich ganz bewusst darauf achte, dann entdecke ich, wie oft ich mit anderen in der Versuchung bin, in liebloser Weise über andere Menschen zu urteilen. Das mag ich nicht an mir. Und das ist inzwischen eine wirkliche Sehnsucht und mein wichtigster Vorsatz: Ich möchte von diesem Mann lernen, den ich im Ehevorbereitungsgespräch kennenlernen durfte und von dem Mann aus Nazareth, dessen liebevolle Haltung zu den Menschen heilsam war.
Denn diese Haltung braucht unsere Zeit und unser Gemeinwesen ganz besonders. Die sozialen Medien haben uns neue Welten geöffnet und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche einen wachsenden materiellen Wohlstand. Aber manches was damit einhergeht, wirkt wie Salzsäure auf die Menschlichkeit und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Mich erschüttert die aktuelle Empörungskultur. Menschen werden an den Pranger gestellt, ohne dass sie selbst gehört werden. Wer beleuchtet noch beide Seiten? Ist das Urteil einmal gefällt, bleibt kein Platz für differenzierte Bewertungen. Und auch die politisch Verantwortlichen erklären bei der kleinsten Gelegenheit alles zum Skandal, was der politische Mitstreiter tut. Genauso aber wird nicht gesorgt für Wahrheit, Transparenz und Gerechtigkeit. Vielmehr wachsen Misstrauen und Spaltung. Extremistische Strömungen und Verschwörungstheorien erhalten Zulauf.
Wie wohltuend dagegen die Haltung, die die Braut ihrem Bräutigam zugeschrieben hatte: „Er verurteilt niemanden“. Diese Haltung wünsche ich mir auch von meiner Kirche. Viel zu lange ist sie als Richterin aufgetreten und nicht wie Jesus. Vor allem aber wünsche ich mir diese Haltung von mir selbst. Und ich lade Sie ein auch an diesem Tag wachsam dafür zu sein und zu erleben wie wohltuend dies ist – für die Menschen, denen Sie begegnen, aber auch für Ihren eigenen inneren Frieden.
Aus Münster grüßt Sie herzlich Jochen Reidegeld.