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Kirche in WDR 3 | 19.01.2024 | 07:50 Uhr
An die anderen denken
„Gott ist schön“ – so hat der Schriftsteller Navid Kermani vor Jahren sein erstes Buch genannt. Es geht darin um den Koran und die Schönheit seiner Sprache. Denn der Koran ist Poesie von der ersten bis zur letzten Sure, und gerade in der Frühzeit des Islam – so zeigt Kermani – wurden nicht wenige Menschen durch die Schönheit dieser Dichtung zur neuen Religion bekehrt.
An der Sprache des Koran hat sich die arabische Dichtung Jahrhunderte lang orientiert. Sie sollte schön sein und erhaben. Erst im 20. Jahrhundert haben Autoren vermehrt gewagt, einen anderen Stil zu wählen. Sie schreiben über autoritäre Herrscher, unter denen sie leben müssen, über soziale Probleme und das Leid, das die Menschen quält – auch in der Alltagssprache. Manche wurden sogar als „die poetische Stimme ihres Volkes“ bezeichnet. So der Palästinenser Mahmud Darwish. Von ihm stammt folgendes Gedicht:
Sprecher:
Wenn du dein Frühstück vorbereitest, denke an die
anderen:
Vergiss nicht, die Tauben zu füttern.
Wenn du dich in Kriege stürzt, denke an die anderen:
Vergiss nicht die, die um Frieden bitten.
Wenn du die Wasserrechnung bezahlst, denke an die
anderen:
Jene, die aus Wolken trinken.
Wenn du in’s Haus zurückkehrst, in dein Haus, denke an
die anderen:
Vergiss nicht die Menschen der Zelte.
Wenn du schläfst und die Sterne zählst, denke an die
anderen:
An die, die keinen Schlafplatz gefunden haben.
Und wenn du deine Seele mit Wortspielen befreist,
denke an die anderen:
Jene, die das Recht auf Redefreiheit verloren haben.
Und wenn du an die weit entfernten Anderen denkst,
denke an dich selbst:
Sag: Ich will eine Kerze in der Dunkelheit sein.[1]
Kerze in der Dunkelheit. Da muss ich in diesen Tagen hier im Heiligen Land, wo ich lebe, auch an die Palästinenser in Gaza denken. Letztes Jahr an Palmsonntag konnte ich noch die kleine katholische Kirchengemeinde besuchen, die es dort bis heute gibt. Schon damals war die Situation nicht einfach. Die Menschen litten doppelt – eingesperrt in einen kleinen Küstenstreifen und drangsaliert von der Hamas. Bewundernswert hielten und halten die gerade mal 130 Gemeindemitglieder zusammen, beteten und beten täglich in der Pfarrkirche „Zur heiligen Familie“ und boten damals sogar noch soziale Dienste für alle Bewohner des Gazastreifens an – als Kerzen in der Dunkelheit.
Ja, diese Menschen, die nun zusammengedrängt auf dem Grundstück der Gemeinde ausharren müssen, die Raketen und Scharfschützen schutzlos ausgeliefert sind – sie sind „Lichtgestalten“, sie huldigen nicht dem perversen Todeskult wie so viele um sie herum. Und nicht nur von diesen Menschen gilt, was ich im Titel eines anderen Gedichtes von Mahmud Darwish gefunden habe. Da heißt es: „Auch wir lieben das Leben, wo wir nur können...“[2]
Das Leben lieben. Auch an die anderen denken. Wie schwer ist das in diesen Tagen, nicht nur in diesem Land. Und wie notwendig.
Aus dem Heiligen Land grüßt Sie Georg Röwekamp
[1] Aus: Mahmud Darwish, Die Mandelbaumblüte und ferner, 2005 (übers. von Hakam Abdel-Hadi).
[2] Aus: Mahmud Darwish, Ausgewählte Gedichte (übers. von St. Weidner), Straelen 2001.