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Kirche in WDR 3 | 20.01.2024 | 07:50 Uhr
Tragik
Meinem alten Deutschlehrer verdanke ich die erste Lektion in Sachen „Tragik“. Wir lasen ein altes griechisches Theaterstück, Antigone, und – ich weiß nicht mehr, wie er das gemacht hat – plötzlich verstanden wir alle, was da passiert: Zwei gleich berechtigte Ansprüche treffen aufeinander, zwei richtige Haltungen – aber nur eine wird sich durchsetzen. Zwei Menschen. Beide haben recht. Und gerade deshalb kommt es zur Auseinandersetzung, die in diesem Fall tödlich endet. Genau das umschreibt Tragik!
Immer wieder denke ich in den letzten Wochen genau daran, hier im Heiligen Land, wo ich lebe. Schon lange stehen sich hier zwei berechtige Ansprüche gegenüber auf ein und denselben Landstrich. Und nach dem Massaker vom 7. Oktober stehen sich wieder zwei berechtigte Anliegen gegenüber: Das Recht auf Selbstverteidigung, auf Schutz vor brutalen Mördern auf der einen Seite, und das Recht auf Leben, auf Unversehrtheit von so vielen Unschuldigen auf der anderen Seite. Ein Konflikt: tragisch und anscheinend nicht aufzulösen.
Wie die Tragik überwinden? Einen Hinweis auf einen möglichen ersten Schritt habe ich gefunden bei einem anderen Lehrer, hier in Israel: Geboren wurde der als Ludwig Pfeuffer. Als er in den 1950er Jahren den Lehrerberuf ergriff, hieß er schon Jehuda Amichai, denn er war mit seiner Familie 1935 vor den Nazis nach Palästina geflohen und hatte einen neuen Namen angenommen: Ami chai. Zu Deutsch: „Mein Volk lebt.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Studium der hebräischen Literatur und Bibelwissenschaft begann seine Zeit als Lehrer und Hochschuldozent. Aber berühmt wurde er als Dichter.
Er beherrschte die Sprache der Bibel, schrieb jedoch in der hebräischen Alltagssprache. Auf wunderbare Weise hat er die Tragik des Rechthabens in Worte gefasst in seinem Gedicht: „Der Ort, an dem wir recht haben“:
Sprecher:
„An
dem Ort, an dem wir recht haben
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben,
ist zertrampelt und hart
wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber
lockern die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und ein Flüstern wird hörbar
an dem Ort, wo das Haus stand,
Das zerstört wurde.“[1]
Ein so einfaches Bild: Der Ort, an dem man mit dem Fuß aufstampft, weil man verdammt nochmal recht hat, wird unfruchtbar. Nur der Zweifel und die Liebe können den Teufelskreis zerbrechen und die Ohren öffnen für das Recht und das Leid der anderen.
Das ist unendlich schwer in diesem Land – mit all den zerstörten Häusern hier und dort und mit den zugleich zerstörten Leben. Aber erst wenn das Flüstern gehört wird all der Opfer, die in diesen Häusern gelebt haben, unter ihnen begraben wurden, können irgendwann wieder Blumen wachsen.
In einem Interview hat Jehuda Amichai einmal über die Kunst gesagt – und man könnte das Gleiche über Religion sagen: „Die Aufgabe der Schriftsteller und Künstler ist es, Menschen Worte zu geben, die stützen. Die Kunst soll dabei helfen, mit der Wirklichkeit zu leben, darf aber nie Illusionen wecken.“[2]
Illusionen hat hier im Moment niemand mehr. Aber Worte, die stützen, brauchen wir mehr als je zuvor.
Aus Israel grüßt Sie Georg Röwekamp
[1] Aus: Jeguda Amichai, Zeit. Gedichte (übers. von l. und p. Böhmer), Frankfirt 1988.
[2] Aus einem
Zeitungsinterview anlässlich des deutsch-israelischen Schriftstellertreffens
1993 in Berlin; zitiert nach dem Klappentext von
„Auch eine Faust war
einmal eine offene Hand“, München/Zürich 1994.