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Kirche in WDR 3 | 11.04.2014 | 07:50 Uhr
Zu sich selbst befreien
Meine Hörerinnen und Hörer,
eine Lehrerin hat mir folgende Begebenheit erzählt: Sie sitzt allein im Klassenraum und erledigt Schreibarbeiten. Da hört sie unter einer Bank ein Geräusch. Sie schaut nach und sieht einen Schüler, der auf dem Boden hockt und in ein Heft schreibt. Auf die Frage, was er denn da mache, sagt er, er habe sich schlecht benommen und müsse jetzt eine Zusatzaufgabe erledigen.
Die Lehrerin kennt den Jungen. Er ist ein auffälliges, schwieriges Kind und macht den Lehrpersonen und den Mitschülern immer wider Ärger.
Der Junge setzt sich nun mit seinem Heft an einen Tisch und schreibt weiter. Da sagt er plötzlich: „Wissen Sie, eigentlich bin ich gar nicht so. Ich weiß, dass ich viel Mist mache und dass mich darum keiner leiden kann. Aber eigentlich bin ich gar nicht so.“
Die Lehrerin spricht dann mit dem Jungen, und sie erfährt, dass er in der Schule eine Rolle spielt, eine Rolle, die er eigentlich gar nicht will. Alle erleben ihn als einen Rowdy, der ständig Aufsehen erregt und andere zur Wut reizt. Aber in Wirklichkeit ist er ein Kind voller Sehnsucht nach Zuwendung und Anerkennung.
Das Gespräch mit der Lehrerin muss dem Jungen gut getan haben. Denn in den folgenden Wochen verhält er sich unauffällig, und es gibt wenig Anlässe, ihn zu tadeln oder zu bestrafen. Wahrscheinlich ist ihm ein Stein vom Herzen gefallen, weil er endlich einmal seine Rolle ablegen und sich von einer anderen Seite zeigen konnte.
Was dieser Junge erlebt hat, erleben andere auch: Das Gefühl von Befreiung, wenn man Fassaden abbaut und zeigen kann, wer man eigentlich ist. Zum Beispiel der ehemalige Chef einer Firma. Alle kannten ihn als kühlen und unnahbaren Geschäftsmann, dem es immer nur um Erfolg ging. Bei seinen Angestellten war er nicht beliebt, weil es sie oft hart und respektlos behandelte.
Im Rückblick auf sein Leben sagt dieser Mann: „So, wie man mich im Berufsleben erlebt hat, so bin ich eigentlich gar nicht. In Wirklichkeit bin ich dünnhäutig und empfindsam.“ Jetzt, wo er in Pension ist, hofft dieser Mann, dass er sein Interesse an Menschen und auch sein Mitgefühl zeigen kann. „Ich hoffe, als ganzer Mensch zu leben“, sagte er mir.
Oder die Frau, die nicht alt werden will und alles tut, um jung zu erscheinen. Man kann ihr kein größeres Kompliment machen als ihr zu versichern, wie jugendlich sie aussähe. Aber so richtig wohl fühlt sie sich nicht, denn im Grunde spürt sie, dass sie sich etwas vormacht. Sie wird wohl erst dann mit sich selbst zufrieden sein, wenn sie sich annimmt als eine Frau, die alt wird; die dann aber auch stolz sein kann auf ihre Lebensleistung und stolz darauf, dass sie in all den Jahren ein reifer Menschen geworden ist.
Der Weg zur Freiheit von falschen Rollen und Fassaden ist nicht immer leicht. Ohne Hilfe geht es oft nicht. Der Schuljunge, von dem ich erzählt habe, hat in der Lehrerin eine Helferin gefunden. Andere finden Freunde, denen sie vertrauen, oder sie suchen vielleicht auch psychologische Beratung. Viele wenden sich aber auch an Gott und bitten ihn um Hilfe, denn er weiß, wie kein anderer, wer wir wirklich sind. In einem Gebet heißt es: „Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz.“ Und ich füge hinzu: „Gib uns den Mut zur Wahrheit, die uns befreit.“
Das wünscht Ihnen Pfarrer Wolfgang Dembski aus Dortmund.