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Kirche in WDR 4 | 26.11.2013 | 08:55 Uhr
Die Hand
Seine Hand stand merkwürdig vom Arm ab. Zwischen zwei Fingern klemmte die Zigarette. So erinnere ich mich an meinen Onkel. „Da war ein Mensch, der hatte eine verdorrte Hand.“ (Mk 3,1) So steht’s in der Bibel und so fängt die Geschichte einer Wunderheilung durch Jesus an. Für mich als Kind war dieser Mensch mit der verdorrten Hand aus der Bibel keine Phantasiegestalt, denn es gab ihn ja in echt, den Mann mit der verdorrten Hand. Meinen Onkel. Als der zu Beginn des letzten Jahrhunderts geboren wurde, war das Zuckerstück mit Impfstoff gegen Kinderlähmung noch längst nicht Gang und Gäbe. Mein Onkel wurde auf alle Fälle nicht geimpft und erkrankte als Kind an dem Virus. Die Folge war, dass er seine rechte Hand nicht mehr benutzen konnte. Sie stand versteift ab. Da half Jesus nicht. Oder vielleicht nur irgendwie anders?
Jesus sieht also in der Geschichte einen Mann mit seiner abgestorbenen rechten Hand. Rechte Hand: Da steckt das ganze Leben drin. Oder eben auch nicht. Der Mensch ist lahmgelegt. Im Alltag. Beim Arbeiten. Beim Umarmen. Und das tut Jesus furchtbar leid. Hat er doch ein Herz für Lahmgelegte. Und so holt er ihn vom Rand in die Mitte der Synagoge und heilt ihn sogar am Sabbat. Dem Feiertag, an dem alle Arbeit ruhen soll. Manches Leid kann eben nicht warten bis Montagmorgen die Praxis wieder öffnet. Auch Beten nur mit einer Hand ist nicht besonders schön. Der Mann streckt also seine abgestorbene Hand aus, Jesus schlägt ein, sie wird gesund – und die Frommen sind sauer, dass er das alles am Feiertag macht. Ende der Erzählung – und der Mensch, so stelle ich es mir zumindest vor, macht einen Kopfstand und tanzt auf seinen beiden gesunden Händen vor Glück in die nächste Woche hinein.
1939 kam der Krieg, auch zu meinem Onkel. Er wurde gemustert. Und, das sahen alle - Ärzte, Schwestern und der Herr vom Kriegsministerium – mit meinem Onkel war kein Staat zu machen, kein Krieg zu gewinnen. Ausgemustert und fort. Er ist dann nach Prag gegangen und ans Max Reinhardt-Seminar in Wien und wurde schließlich Filmregisseur, weil man da viel redete, aber wenig mit der Hand machen musste. Das taten ja schließlich seine Kameraleute für ihn.
Immer, wenn er zu meiner Großmutter auf Besuch kam, musste sie ihm schlimme Nachrichten erzählen. Wieder war einer seiner Klassenkameraden eingezogen worden. Und wieder war dieser gefallen. Erst in Frankreich. Dann in Russland. Zuletzt in Belgien. Als alles vorbei war, saß ich eines Abends auf dem Schoß meiner Großmutter. Sie war eine sehr fromme Frau und ich konnte sie immer alles fragen, was mich als Kind so zwischen Himmel und Erde beschäftigte. Die verdorrte Hand des Onkels war mir immer ein bisschen unheimlich gewesen. Und stellte ihr die Frage, die mich schon länger beschäftigt hatte:
„Oma, warum hat der liebe Gott dem Onkel nur eine richtige Hand gegeben?“ Danach, und das weiß ich noch wie heute, schwieg meine Großmutter eine Zeit lang und sagte dann: „Ja, Max, das habe ich mich auch gefragt, als er als Zehnjähriger nichts mehr greifen konnte. Nach dem Krieg aber ist es mir auf einmal ganz deutlich geworden und ich hab’s dann so erklärt: Ich weiß, warum die rechte Hand vom Bubi gelähmt ist. Er sollte halt den Krieg überleben.“
Passen die Geschichten zusammen? Jesus und der Mann mit der verdorrten Hand und mein Onkel mit seiner Kinderlähmung? Ich glaube schon. Es sind diese Wunder, mit denen wir überleben. Besser noch: Leben! Da ist ein Heiland, der sieht, was man in der Not sofort braucht. Und da ist sein Geist, der auch durch eine Tragödie vor noch Schlimmeren bewahren kann.
Nein, eine Regel darf man auf keinen Fall daraus machen. Manche schwere Einschränkung kommt einem bis zum Ende sinnlos vor und man erkennt keinen Sinn darin. Aber sie kann Jesu Liebe zum Leuchten bringen. Die Liebe zum Leben selbst meint Pfarrer Max Koranyi aus Königswinter.