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Kirche in WDR 4 | 20.01.2015 | 08:55 Uhr
KZ-Engerhafe
Drei schwarze Steintafeln nebeneinander. Darauf stehen Namen. Namen, die mir vor einer Stunde noch nichts gesagt haben. Vor den Tafeln stehen vierzehn Kerzen. Mein Blick löst sich von den Tafeln. Und ich schaue auf ungefähr 100 Menschen, Alt und Jung, die schweigend vor diesen Tafeln stehen.
Ich bin auf einem Friedhof. Rechts von mir befindet sich eine alte Kirche aus roten Backsteinen. Ich blicke weiter um mich herum und sehe flaches Land.
Der Ort heißt Engerhafe, so etwas wie ein Dorf mitten in Ostfriesland. Als Kind bin ich oft an diesem Dorf vorbeigefahren, wenn wir zu Verwandten in die Stadt Norden fuhren. Damals kannte ich nicht den Namen des Dorfes, wusste nicht, was an diesen Ort Schreckliches geschehen war.
Von Oktober bis Dezember 1944 gab es hier in Engerhafe ein Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Es war ein abgelegenes Außenlager des KZs Neuengamme bei Hamburg. bis zu 2000 Männer wurden in drei unbeheizten Baracken zusammengepfercht. Sie sollten einen Teil des sogenannten "Friesenwalls" bauen.
Damit wollte sich Hitlerdeutschland vor der befürchteten Invasion schützen.
In den zwei Monaten wurden 188 Menschen hier umgebracht, umgebracht durch unmenschliche Arbeit, Kälte, Nässe, Hunger, Krankheiten, Schläge.
Das Konzentrationslager lag mitten im Dorf, nahe der Kirche, gegenüber der Dorfschule. Die Häftlinge marschierten jeden Tag durch das Dorf, dann durch das nahegelegene Aurich. Auf dem Rückweg zogen die Überlebenden ihre toten Kameraden hinter sich her, weil sie zum Tragen keine Kraft mehr hatten. Das ist das zweite Bild, das sich in mir festbrennt: Ausgemergelte Gestalten, die eine Leiche über den Boden schleifen.
Diese 188 Ermordeten sind nicht vergessen. Ihre Namen stehen auf den schwarzen Tafeln. Und im Oktober vergangenen Jahres gab es eine Gedenkveranstaltung in Engerhafe für diese Opfer: "Begegnungen nach 70 Jahren". Es war bewegend: Kinder, Enkel und andere Angehörige dieser getöteten Menschen waren zu der Veranstaltung gekommen. Sie erzählten von den Umgekommenen: wer sie zu Lebzeiten waren, vor der Gefangennahme. Und so standen Nachfahren der Opfer und Nachfahren der Täter und passive Zuschauer von damals, vereint vor diesen schwarzen Steintafeln mit den Namen der Umgebrachten.
Pastor Carl Osterwald, der Vorsitzende des Vereins "Gedenkstätte KZ-Engerhafe", schreibt:
Sprecher: "Die Erinnerung an das, was war
Kann uns bewahren vor Wahnideen
Und uns befreien und ermutigen
Zu Friedfertigkeit und Versöhnung.
Die Gedenkstätte kann ein Wegweiser
in die Zukunft sein:
Hier können Menschen lernen,
Sich die Hand reichen,
Sich begegnen, finden, würdigen." (1)
Während dieser Gedenkfeier entstanden in mir zwei sehr unterschiedliche Gefühlswelten. Zum einen Scham, Wut, Trauer, und das obwohl ich erst in den 60er Jahren geboren wurde.
Die zweite Gefühlswelt wird sie vielleicht wundern. Es machte mich ein wenig stolz. Stolz, dass wir als Deutsche diese 188 Menschen nicht vergessen haben. Es ist gut, dass es in Engerhafe eine Gedenkstätte gibt. Es ist gut, dass es einen Verein gibt, der sich mit der Aufarbeitung dieses Verbrechens beschäftigt. Ich denke, dass wir stolz darauf sein können, dass wir dieses Stück schwärzester deutscher Geschichte nicht verdrängen. In der Bibel heißt es:
Sprecher: "Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen." (5. Mose 32, Vers 7 nach der Einheitsübersetzung)
In genau einer Woche ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Wenn Sie Gelegenheit haben, fragen Sie doch mal die Menschen, die diese Zeit miterlebt haben. Es bleibt wichtig, darüber zu reden.
Aus Herne grüßt Sie, Ihr Pastor Heddo Knieper.
(1) aus dem Flyer der Gedenkstätte
http://www.gedenkstaette-kz-engerhafe.de/gedanken.html