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Kirche in WDR 4 | 23.03.2016 | 08:55 Uhr
Auch ich bin Judas
Guten Morgen!
„Merkel muss weg“, brüllen Leute, die unsere Bundeskanzlerin für alle Probleme verantwortlich machen. Viele erweitern ihre Schuldsprüche gleich auf alle Politiker: Die sind unfähig, korrupt, denken nur an sich, verraten das Wohl des Volkes. Am besten also „alle weg“. Die Flüchtlinge müssen auch „weg“, zumindest die Unangenehmen, vor allem „die Moslems“ und alle anderen, die sich uns nicht anpassen wollen. Und „weg“ müssen auch alle Kriminellen, die irgendwie auffallen, die sich nicht an unsere Regeln halten, „alle weg“.
So klingt das, wenn ich mir anschaue, was in den sozialen Netzwerken geschrieben wird und was ich manchmal auch in Mails oder Briefen empörter Bürger lese. Eine Welle der Unzufriedenheit, des Zorns und der Empörung, abgeladen auf bestimmte Personen, Gruppen, Institutionen. Für viele Leute ist ganz klar, wer für dieses oder jenes Problem verantwortlich ist. Und es ist auch klar, wer verschwinden muss, damit das Leben und die Welt so bleibt, wie sie ist – zumindest für einen selbst.
Ach, wie schön einfach ist es doch, wenn man jemandem hat, dem man das ganze Unheil der Welt ans Bein binden kann. Dann habe ich mit nichts etwas zu tun, kann mich in Unschuld wiegen und die Illusion aufrecht erhalten, dass die Welt ja eigentlich rundum schön und einfach wäre – wenn da nicht die bösen anderen wären.
Es ist ein uraltes Muster. Die christliche Tradition kennt es auch. In der Karwoche taucht ein Urbild des Bösen auf: Judas, der Verräter. Ohne ihn wäre Jesus nicht ausgeliefert worden. Ein Mann aus dem Kreis der Jünger. Aus purer Geldgier, so die Überlieferung, verrät er seinen Herrn an dessen Verfolger – mit einem Kuss, schlimmer geht’s nicht.
„Du Judas!“ – teilweise ist das bis heute ein geflügeltes Schimpfwort, um unliebsame Leute schuldig zu sprechen. Der Schuldige ist immer der Andere. Der andere trägt dann auch alles Böse in sich. Ich, wir dagegen sind „die Guten“!
Ein grandioser Irrtum. Das lehrt übrigens auch die Geschichte des Judas. Er ist gar kein Außenseiter. Im Gegenteil: Er ist einer der Zwölf, die Jesus sehr bewusst ausgewählt hat. Nie verliert Jesus ein böses Wort über ihn. Judas gehört dazu. Mit seinem Verrat. Über den wir im Übrigen viel zu wenig wissen. Nur eines: Das Schicksal Jesu hing nicht an dieser einen Tat.
Was Judas betrifft, so sorgt Jesus für eine bemerkenswerte Szene im Abendmahlssaal. Als er mit allen Aposteln beisammen sitzt, lässt er die Bombe platzen: „Einer von euch wird mich verraten!“ Einen Namen nennt er nicht. „Bin ich es etwa?“, fragt einer nach dem anderen. Das finde ich erstaunlich: Wer so fragt, der ahnt, was in ihm steckt. „Bin ich es etwa?“ heißt: Möglich wäre es! Judas könnte jeder sein. Auch in mir steckt Judas, in jedem von uns steckt die Möglichkeit des Bösen, des Schuldigen, des Verantwortlichen für dieses oder jenes Unheil.
Wer die Welt in Gut und Böse, in Unschuldige und Schuldige aufteilt, der spaltet und will nicht wahrhaben, dass das Leben so einfach nicht ist. Wir werden schon aushalten müssen, dass es perfekte Politiker nicht gibt; dass es unter uns Menschen immer Unangenehme, Schwierige und Unangepasste gibt; dass niemals die Schuld für alle Probleme nur bei irgendwelchen anderen liegt, sondern dass auch ich selber nicht ohne Schuld bin. Und ob diejenigen, die Merkel, Gabriel und all die anderen Politiker einfach nur „weg“ haben wollen, tatsächlich die bessere Alternative wären – ich glaube das nicht!
Aus Essen grüßt sie Generalvikar Klaus Pfeffer.