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Kirche in WDR 4 | 29.09.2018 | 08:55 Uhr
Meine Füße auf weitem Raum
Guten Morgen.
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. (Psalm 31,9)
Ein Satz aus einem Gebet in der Bibel, der mich schon lange begleitet.
Darin bittet ein Mensch Gott um Hilfe vor seinen Verfolgern. Im Gebet findet er Vertrauen zu Gott. „Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum“. In diesem Vertrauen, kann der Beter seine Perspektive wechseln: Er sieht neue Lebensmöglichkeiten und -chancen für sich.
Und er erinnert mich an Genesis, (gesprochen: Henesis), eine Studentin aus Venezuela. Als sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Nordseeinsel Juist ist, schwärmt sie:
„Es ist überwältigend – unglaublich.“
Ihr erster Blick auf die Nordsee. Bis zum Horizont direkt in den Himmel hinein.
Und dann: Mit Gummistiefeln an den Flutsaum laufen, an die Grenze zwischen Wasser und Land, zwischen festem Grund unter den Füßen und blauer Unendlichkeit.
Oder bei Ebbe am endlosen Strand den Drachen steigen lassen.
So als gäbe es nur mich und den Himmel über mir. Zeit- und selbstvergessen.
Mal ist das Meer ganz zurückgezogen, ganz weit weg. Zeit der Ebbe.
Mal kommen Wellen und Gischt nahe heran, Zeit der Flut. Und obwohl die Insel zwar lang, aber sehr schmal ist, gibt es die Erfahrung von Weite immer wieder neu und anders.
Der Blick schweift in die Ferne übers Meer. Der Strand ist leer, eine endlos weite Fläche.
Sand und Dünenlandschaft.
Genesis hat diese Weite mit zurück genommen in ihr weiteres Leben an der Musikhochschule in Köln und später in Venezuela.
Weite, die kann ich nicht nur auf Juist und am Meer erleben, sondern auch in meinem Alltag. Wenn sich etwas in mir selbst weitet, wenn mein Blick über den Horizont hinausgeht, aus räumlicher Enge und festgelegten Denkmustern. Wenn mein Herz weit wird für neue Erfahrungen, Begegnungen, Erkenntnisse. Oder wenn ein Druck von mir weicht: weil ich eine Prüfung nach mehreren Fehlversuchen endlich bestanden habe.
Wenn ich mit Freunden unterwegs bin, denen ich alles sagen kann. Die mir zuhören, die nachfragen, mich liebevoll begleiten. So dass ich mit neuem Mut weitergehen kann.
So fühlt sich Weite an, frei werden. Ich lasse etwas hinter mir, was mich vorher eingeengt und bedrängt hat.
„Gott, du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – der Beter in der Bibel ist in die Enge getrieben. Von Menschen, die ihm das Leben schwer machen, ihn verfolgen; Situationen, die bedrohlich sind. Ein schwieriges Gespräch vielleicht, eine verfahrene Lage, aus der ich nicht mehr rauskomme; Druck, den andere mir machen, Verpflichtungen, denen ich nachkommen muss.
Da wird der Raum klein, die Weite eng. Da fehlt mir die Luft zum Atmen.
Und doch: „Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum.“
Mir hilft es dann manchmal durchzuatmen, beide Arme weit zur Seite auszustrecken und den Brustkorb zu weiten. Eine kurze Übung nur, aber wirkungsvoll.
Auch in dem Bewusstsein, dass Gott mir die Weite schenkt, die er für mich und andere offen hält. Bis zum Horizont direkt in den Himmel hinein. An die Grenze zwischen Wasser und Land, zwischen festem Grund unter den Füßen und blauer Unendlichkeit.
Ihre Pfarrerin Christiane Neufang aus Köln.