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Sonntagskirche | 17.11.2019 | 08:55 Uhr
Die Leuchtspur eines Versprechens
Der Koffer für die letzte Reise. Gerademal vier Wochen war es her, da hatte Gerhard Thomys
seinen großen, schwarzen Koffer gepackt. Voll war er und schwer. Schließlich wollte er lange
fortbleiben. Drei Wochen Kur mit Aussicht auf Verlängerung. Dass es eine Reise ohne Wiederkehr
werden würde, daran hatte wohl niemand ernsthaft gedacht. Der Koffer für die letzte Reise.
Die Familie hat es nicht übers Herz gebracht Vaters Koffer auszupacken. Darum haben sie ihn
einfach mitgebracht, zur Begräbnisfeier, in die Kirche. Der Sarg mit dem toten Leib des alten Herrn
hat seinen Platz vor dem Altar. Und rechts neben ihm, gerade eine Armlänge entfernt, steht sein
Koffer. Ein kleines Detail mit großer Wirkung!
Alles, was in dieser Stunde gesagt, getan und gefeiert wird, muss sich daran messen lassen.
In der biblischen Lesung heißt es dann: Der Herr wird seinen Engel mit dir senden und Deine
Reise gelingen lassen. Gott spricht: Ich bin mit Dir. Ich behüte Dich, wohin Du auch gehst, bis ich
vollbringe, was ich Dir versprochen
habe.
Die Worte aus der Bibel sind uralt. Sie sind ein Segensspruch. Und alle, die auf den Koffer blicken
denken, er ist wie für diese Feier gemacht. Denn für die Angehörigen steht Vaters Koffer für die
Fülle der Erfahrungen eines langen und bewegten Lebens, das vor über 90 Jahren in Gleiwitz,
Oberschlesien begann.
Der Herr wird Deine Reise gelingen lassen. Stimmte das?
Gerhard Thomys war einst ein leidenschaftlicher Erzähler. Gerne und oft hatte er mir bei
meinen Besuchen aus seinem langen Leben erzählt, besonders aus den Kriegsjahren.
Und ich habe
ihm gerne zugehört.
Acht Kinder waren wir zu Hause. Ich bin der sechste Sohn
meiner Mutter. Mit diesen Worten hatte mich der Erzähler in seine Jugendzeit geführt.
Alle fünf Brüder wurden nach und nach eingezogen, in diesen unsinnigen Krieg, der nur Hass und
Gewalt, Tod und Leid gebracht hat. Wir hofften und bangten und beteten. Doch keiner von ihnen
kam zurück. Alle fünf Brüder wurden getötet. Mit tränenerstickter Stimme und tiefem Seufzen hielt
Gerhard Thomys kurz inne, um so fortzufahren: Und dann kam mein Einberufungsbefehl. Ich
erinnere mich noch ganz genau. Mutter und ich standen in der Küche. Entschlossen riss sie mir
den Brief aus der Hand und sagte: Komm,
mein Junge!
Mit energischen Schritten stürmte
Mutter
in das Büro des Wehrmeldeamtes. Unerschrocken knallte diese kleine Frau den
Einberufungsbescheid auf den großen Schreibtisch des Kommandeurs, deutete auf mich und
sagte mit leiser, doch unnachgiebiger Stimme: Mich könnt ihr haben, aber diesen kriegt ihr nicht!
War es Zufall, war es das mutige Einschreiten der Mutter oder sogar göttliche Fügung?
Die Zurückweisung des Stellungsbefehls blieb folgenlos. Der grausame Krieg verschonte Gerhard
Thomys. Warum ausgerechnet ich? Bis zum Ende seines Lebens trug dieser gläubige und
aufrechte Mann schwer an dieser Frage. Doch er hatte sich fest vorgenommen: Wenn ich einst vor
meinen Schöpfer trete, dann werde ich Gott genau diese Frage stellen!
Fünfundsiebzig Jahre weitere Jahre sollten vergehen, ehe er dazu Gelegenheit bekam.
Gerhard Thomys hat diese Zeit genutzt. Für ihn war sein gerettetes Leben ein Geschenk. Dafür
war er Gott von Herzen dankbar. Und gleichzeitig sah er es als besondere Aufgabe, der er sich an
jedem Tag seines Lebens neu stellen wollte: Wenn Gott mich behütet und gesegnet hat,
dann muss ich diesen Segen weiter schenken! Davon war er überzeugt und so lebte er.
Gerhard war ein Segen für seine große liebenswerte Familie, für die Menschen, denen er
begegnete, für unsere Gemeinde und für mich. Ich habe ihn bewundert, diesen gradlinigen und
manchmal auch strengen, diesen hilfsbereiten und zuverlässigen, diesen gerechten und
würdevollen alten Mann.
Gerhard
Thomys ist seinem Versprechen treu geblieben bis zum letzten Augenblick
seines
Lebens. Bis zu jenem Ostermorgen, als Gott ihn von einem Moment auf den anderen zu sich rief.
Seinen Koffer hatte er nicht mitgenommen. Der blieb zurück.
Als Erinnerung an die Lebensleistung eines Menschen, von der ich heute erzählt habe.
Als Erinnerung an die Lebensleistungen unzähliger Frauen und Männer seiner
Generation, denen wir den Frieden, die Freiheit und die Demokratie verdanken.
Möge dieser Segen allen Menschen unseres Landes Geschenk sein und Aufgabe bleiben.
Gertrude Knepper