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Kirche in WDR 4 | 19.03.2020 | 08:55 Uhr
Lesebrille
Älter werden - ich bin jetzt 50 Jahre alt -
finde ich insgesamt weniger schlimm, als ich mir das mit 25 vorgestellt habe.
Es tut weniger weh als gedacht, und, ehrlich, ich habe alles in allem ein gutes
Leben. Und fühle mich noch so neugierig auf Neues wie vor 20 Jahren. Nur eine
Sache nervt in meinem Fall gewaltig: dass meine Sehkraft nachgelassen hat und
ich längst eine Lesebrille brauche. Und wo ist die, wenn ich sie brauche?
Woanders. Und dann gibt es diese Situationen, in denen der Arm im Alltag zu
kurz ist, um Aufschriften auf Verpackungen zu lesen. Und ich denke: „Egal
welche Kochzeit jetzt auf genau dieser Pasta steht, ich werde halt in 10
Minuten mal probieren, ob sie schon al dente sind.“
Nudeln sind also nicht wirklich das Problem. Das mit der Sehkraft erleb ich jedoch schon als Einschränkung, als einen Verlust von Kontrolle im normalen Leben, eine Unsicherheit im Alltag. Und die 5 Lesebrillen aus dem Supermarkt, die sich so angesammelt haben, sind nie da, wenn ich sie brauche.
Und kommen Sie mir jetzt nicht mit „man sieht nur mit dem Herzen gut“. Das stimmt zwar, nimmt mir aber nichts von meinem Frust weg, dass ich meine nähere Umgebung nicht mehr gut sehen kann.
Die Sache mit der Sehschwäche erscheint mir wie eine Geduldprobe, die ich nun halt grad mal lernen muss. Damit zu leben lernen muss. Wie mit anderem auch, dass das persönliche Leben betrifft und sich nicht so leicht daher sagen lässt, man aber dran zu knabbern hat.
In der Bibel steht nichts über Brillen. Die wurden, zumal als Hilfsmittel für alle, erst viel später erfunden. Aber auch ohne meine Lesebrille sehe ich klar, dass der Gott der Bibel einen guten wohlwollenden Blick auf die Welt und die Menschen hat – und auf mich. „Ich sehe dich, wie du wirklich bist, auch im Detail“ – das lese ich aus vielen Geschichten der Bibel und: „ich sehe dich gut. In jeder Sehstärke.“