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Kirche in WDR 4 | 02.06.2020 | 08:55 Uhr
Verstehen
Manchmal sieht man sie klein eingeblendet, unten im Fernsehbildschirm, wenn Politikerinnen oder andere prominente Leute ihre Reden halten.
Manchmal stehen sie gut sichtbar an der Seite einer großen Bühne, wo eine große Show abgeht.
Auch neben mir haben sie schon gestanden, im Gottesdienst, während ich meine Predigt hielt.
Sie sind immer in Bewegung. Gestikulieren mit den Armen, malen mit ihren Händen in die Luft, leisten akrobatische Kleinstarbeit mit den Fingern. Ihre Gesichter sprechen ohne Töne: Die Augen senden Botschaften, die Mimik erzählt, die Lippen formulieren. Das alles passiert in unglaublicher Geschwindigkeit. Es sind Dolmetscher für diejenigen, die nicht oder nur schwer hören können. Immer wieder faszinieren sie mich.
Sie übersetzen, was gerade gesagt wird - sogar den Applaus. Sie bilden die Worte und Töne nicht einfach ab, sie haben eine eigene Sprache. Sie gebärden.
Sogar eigene Lieder hat die Gebärdensprache. Vor kurzem lernte ich einen Kirchenmusiker kennen, der lässt die gebärdeten Lieder auf seiner Orgel als Musik erklingen – so dass wir die ursprünglich stummen Töne hören können. Ein sprachliches Wunder!
Plötzlich vernehme ich die mir fremde Sprache der Gebärden als Klang - und verstehe etwas.
„Ein jeder hörte die Jünger Jesu in seiner eigenen Sprache reden“, wird in der biblischen Pfingstgeschichte erzählt. Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, Religionen und Generationen tummelten sich im Tempel in Jerusalem. Dort redeten die Jünger von den Taten, die Jesus getan hatte. Sprachen von der Kraft Gottes, an die sie glaubten. Und all die vielen fremden Menschen verstanden sie. Mehr noch: Sie hören das, was die Jünger erzählen, jeweils in ihrer eigenen Muttersprache.
Auch diejenigen, die nicht zur Gemeinde gehören. Auch diejenigen, die nichts mit Jesus am Hut haben und nichts von Gott wissen wollen. Sie hören von ihm reden. Und zwar so, dass es ihnen persönlich zu Herzen geht.
Darüber erschrecken sie fürchterlich. Es ist ihnen unheimlich.
Vielleicht kommt ihnen plötzlich alles zu nah.
Sie spüren: Ich bin angeredet. Ich bin gefragt. Ich kann mich nicht mehr hinter allerlei bequemen Ausreden verschanzen: „Mich versteht ja doch niemand. Es ist alles hoffnungslos. Was kann ich schon ausrichten?“
Wo Gottes Worte und Taten mir auf den Leib rücken, gelten solche Sätze nicht mehr. Da ahne ich: Sehr viel kann ich ausrichten, wenn ich wirklich auf Gott vertraue und mit seiner Kraft rechne.
Es ist eine Art heiliger Schrecken, mit dem das erste Pfingstfest begann. Ich wünsche mir, dass er auch mich erfasst und nicht loslässt. Dass er mir Beine macht, dass er mir das Herz und den Mund öffnet und die Hände erfinderisch werden lässt – damit andere auch durch mich etwas spüren von Gottes Worten und Taten.
Das stelle ich mir so ähnlich vor wie das, was der Kirchenmusiker mit den gebärdeten Liedern macht: Mein Gottvertrauen in die Musik des Alltags übersetzen. Etwas Schlichtes tun – und darin ohne Worte von Gott erzählen.
Vielleicht heute schon. Und vielleicht reizt es Sie auch.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze