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Kirche in WDR 4 | 14.09.2020 | 08:55 Uhr
Am Watzmann oder anderswo
Heute ist wieder Montag, und weil heute Montag ist ist das Wochenende auch schon wieder vorbei. Tja. Aber ich bin heute Morgen aufgewacht und weiß, da hinten, da steigt gleich der Watzmann aus der Dämmerung. Ich bin nämlich gerade im Urlaub und kann ihn vom Balkon aus erahnen: ein grauer Kragen mitten zwischen grünen lebenssatten Matten aus Wiesen und Wäldern. Watzmann, Toter Mann, Grünstein, Hirschbichl, Zauberwald – welch wunderbare Gegend, ich bin einfach total happy noch mal ein paar Tage hier zu sein. In einer Gegend, von der ich sagen würde: Lieber Gott, wenn es das Paradies gibt, dann sieht es bestimmt so ähnlich aus wie hier.
Doch in das Bild vom prachtvollen König Watzmann drängeln sich gerade ganz andere. Nämlich die aus Griechenland. Die schrecklichen Bilder vom abgebrannten Flüchtlingslager Moria. 13.000 Menschen haben zuletzt an diesem Ort vegetiert, jahrelang. Viele von ihnen von Schleppern dort hin geführt, alle auf der Suche nach ihrem Paradies. Ihr Paradies ist gewiss ein anderes Paradies als das, auf das ich gerade mit einer Kaffeetasse in der Hand schaue. Ihr Paradies: eine Wohnung, eine Schule, eine Arbeit, freundliche Nachbarn, keine Angst mehr, keine Gewalt, ein Ort, an dem sie nicht weggejagt werden, sondern willkommen sind.
Heute ist wieder Montag, und ich stehe mit einer Kaffeetasse am Fenster. Und draußen, hinter der Fensterscheibe beginnt sie, diese verfluchte Ungleichzeitigkeit: hier ein Tisch mit frischen Semmeln, selbstgemachter Marmelade – dort Tränen, Wut, Verzweiflung und Hunger. Hier eine wunderbare Stille, die ich einatme. Dort Kinder mit erstarrten Gesichtern, die im Rinnstein liegen, mit ner Plastiktüte als Decke. Hier ein neuer Tag im Paradies – dort ein weiterer grauenhafter Höllentag. Hier: Lieber Gott, wie hast du die Welt doch wunderbar gemacht! Dort: Mein Gott, warum hast du sie verlassen.
Heute ist wieder Montag, und ich frage mich: Was kann ich tun? Ich stehe hier mit meiner Kaffeetasse, da hinten der Watzmann und fühle mich nacheinander hilflos und wütend und traurig. Keine Ahnung, ob es Ihnen auch so geht. Ich weiß nicht, was der liebe Gott sich dabei gedacht hat, dass ich hier heute Morgen stehen kann, den fantastischen Sonnenaufgang sehen darf – und das Kind im Fernsehen in einem Dreckloch liegt.
Was kann ich also tun? Ich kann das Bild vom Kind im Dreckloch an mich ranlassen. Es nicht wegdrücken und zulassen, dass es mich verstört, anrührt, ratlos, wütend und traurig macht. Akzeptieren, dass ich allein die ganze Welt nicht ändern kann. Und mich dennoch nicht lähmen lassen. Also Gott anbrüllen und ihn fragen, was das alles soll – hier das Paradies, dort die qualmende Hölle. Hilfswerke unterstützen, die in Moria und anderswo konkret für die Menschen da sind. Politikerinnen und Politikern sagen, dass nun wirklich das Maß voll ist. Und in meinem Alltag einfach weiter das tun, was mein Leben sinnvoll und reich macht: Nämlich in allem was ich tu das Herz sprechen lassen. Weiter an das Paradies glauben, dem anderen das zeigen und alles dafür tun, dass schon heute ein Stück davon zu sehen ist. Am Watzmann oder anderswo. Nicht nur an einem Montagmorgen.