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Sonntagskirche | 08.11.2020 | 08:55 Uhr
Sonntagsspaziergang
Sonntagsspaziergang:
Ein Eichhörnchen läuft mir über den Weg,
guckt sich immer wieder nach mir um,
als wollte es sichergehen, dass ich hinterherkomme.
Ich lasse mich locken und gehe ihm nach, eine ganze Weile lang,
doch dann flitzt es einen Baum hoch,
und ich komme nur noch in Gedanken hinterher:
Wie die Welt wohl von da oben aussieht?
Du könntest es mir erzählen, kleines Eichhörnchen.
Doch du hüpfst weiter, von Baum zu Baum,
wieder und wieder wechselst du deinen Standort.
Deine Leichtigkeit lockt mich,
dein Spiel.
Ich gehe dir hinterher, von hier unten aus,
und biege ab in einen Weg,
den ich noch nicht kenne.
Mal sehen, wo er mich hinführt,
wo du mich hinführst.
Dein Maul hast du die ganze Zeit halb geöffnet.
Ich frage mich: warum?
Ob du etwas transportierst? Ich kann es nicht richtig erkennen.
Da hältst du inne,
lüftest dein Geheimnis
und zauberst ein Nüsschen aus deinem Maul hervor.
Ganz in Ruhe fängst du an zu knabbern.
Nur dich und deine Nuss gibt es in diesem Moment.
Ich halte stille,
um dir zuzuhören,
dem Geräusch deines Knabberns zu lauschen,
hole mir dann aus meiner Tasche meine Flasche Wasser,
trinke in aller Ruhe, Schluck für Schluck,
tue nur das eine,
wie du,
tut das gut.
Du schaust mich ausgiebig an.
Und ich dich.
Was für einen herrlichen Schweif du hast.
Genau so lang wie dein Körper ist er.
Ich stelle mir vor, wie er dich unterwegs schützt vor Sonne, Regen, Wind und Wetter.
Wie er dich lenkt, wenn du um Baumstämme herumflitzt.
Und wenn du durch die Luft springst, wird er dir zum Fallschirm.
Deinen Kindern im Frühjahr zur Tragetasche.
Schutz und Schild, dein Schweif,
immer da, immer nah.
Wie ein Fragezeichen geformt,
hält er nach mir Ausschau
und du scheinst mich zu fragen:
‚Na, was suchst denn du hier?‘
Das frage ich mich auch.
Ein altes Wallfahrtslied fällt mir ein.
Gesungen von Menschen,
die sich vor hunderten von Jahren schon auf den Weg machten.
Mit einer Frage begannen auch diese Wandernden:
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.
Woher kommt mir Hilfe?“ (1)
Ja, woher?, frage auch ich mich am Ende dieser verrückten Woche,
hebe auch ich meine müden Augen auf,
meinen schweren Blick,
halte ich Ausschau,
und lasse mich anschauen,
von Bergen, Bäumen und von einem Eichhörnchen,
lasse mich unterbrechen,
befragen, erinnern.
Und noch während die Wandernden von damals
sich umschauen, stimmen sie
eine nach dem anderen ein
in das Wallfahrtslied und singen:
„Meine Hilfe kommt von dem,
der all das gemacht hat.
Himmel und Erde.“ (1)
Was weit weg schien, kommt ihnen nah,
noch unterwegs, kommen sie an,
und eine nach dem anderen sprechen sie einander zu:
„Der dich behütet, schläft nicht.
Er ist dein Schatten
über deiner rechten Hand …
… er behüte deine Seele
von nun an und für immer.“ (1)
Gott. Wie der Schweif des Eichhörnchens, denke ich,
immer da: wie mein eigener Schatten.
Einer, den ich nicht loswerde,
so sehr ich noch renne, mich verrenne
oder verstecke, wo ich auch stecke, wohin ich auch gehe.
Gott. Immer da. Mein Schatten. Ein schützender. Für
jedermann und jede Frau.
Und jedes Kind. Immer nah.
Das Eichhörnchen guckt mich ein letztes Mal an,
die Nuss ist aufgegessen, es lässt die leere Schale fallen,
dann hüpft es davon, sein winkender Schweif ist das letzte,
was ich von ihm sehen kann,
wie ein Fragezeichen,
ein Zeichen,
das mich erinnert.
An alte Worte von Schatten und Schutz, von damals,
für heute, für mich, mit meinen Fragen,
und für dich und für dich
und für dich.
(1) In Anlehnung an Worte aus Psalm 121,
Lutherbibel 2017.
© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Lichtungen 2021 - Adventskalender. bene! Verlag. Nr. 4251693998761.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze