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Das Geistliche Wort | 30.03.2014 | 08:40 Uhr
Womit habe ich das verdient?
Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, mein Name ist Dietmar Röttger. Ich bin Pfarrer der katholischen Pfarrei St. Petri in Arnsberg-Hüsten.
„Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“, Sie kennen bestimmt diese Redewendung! Und sie kommt vielen Menschen leicht über die Lippen, ohne über sie groß nachzudenken. Erst neulich bei einem Spaziergang machte ich ein paar fiese Bemerkungen über einen Bekannten und lästere ab und prompt rutschte ich an einer matschigen Stelle aus. Da kommt dann dieser Spruch: „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.“
Oder nehmen Sie folgenden Spruch: „Womit habe ich das verdient?“ Ich will einen Besuch machen, fahre extra früh los und lande doch im Stau, so dass ich mich verspäte. Womit habe ich das verdient? Oder da ist ein sehr unangenehmer Zeitgenosse, der anderen Menschen das Leben schwer macht. Da lese ich dann in der Zeitung, dass er einen großen Lottogewinn bekommen hat. Womit hat der das verdient? denke ich mir.
Musik I: David Fellingham, You are the radiance (Instrumental)
„Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“, „Womit habe ich das verdient?“: Sprüche, die wir schnell sagen, die Floskeln sind, aber in der Tiefe doch Sinnzusammenhänge unterstellen. Denn es wird nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung gesucht. Die Frage nach Belohnung und Bestrafung für mein Handeln klingt an. Das sind Themen, die Menschen auch in ihrem Glauben schon immer beschäftigt haben. Es geht um vermeintliche Sinnzusammenhänge, die bei den kleinen Dingen nicht groß zum Tragen kommen, die aber zur existentiellen Schicksalsfrage werden können.
Im Johannesevangelium findet sich ein Beispiel für solch eine existentielle Schicksalsfrage. Da sehen Jesus und seine Jünger einen Mann, der von Geburt an blind ist. Im Angesicht des Leidens dieses Menschen fragen die Jünger: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?“ (Joh 9,1-12) Es ist genau diese Frage: Womit hat der das verdient, dass er mit dieser Behinderung geboren wurde? Es beginnt eine Ursachenforschung. Erklärungsversuche. Dabei legen die Jünger ein Muster an, das sie aus ihrer religiösen Tradition, aus ihren Schriften kennen. Gutes Tun wird belohnt und schlechtes Handeln bestraft – auch von Gott. Das Leid also umgekehrt Folge der Sünde. Dieses Schema der Vergeltung ist in den Überlieferungen des Alten Testaments tief verankert. Aber auf diesem geistlichen Boden stehen nun mal die Jünger Jesu: Sie kennen die Erzählungen von der Sintflut, dem Turmbau zu Babel, der Zerstörung von Sodom und Gomorra, in denen Katastrophen als Antwort Gottes auf sündhaftes Handeln der Menschen gedeutet werden.¹ Sie haben die Beispiele von Jacob, Moses oder König David im Kopf, wo immer wieder böses Tun eine Strafe Gottes nach sich zieht. Das Ergebnis: Es ereignet sich Leid nicht nur im persönlichen Leben, sondern auch im Leben des Volkes, sogar bis in nachfolgende Generationen hinein.
Für die Jünger Jesu scheint klar zu sein: irgendeine Sünde muss als Ursache für das Leid des blind Geborenen vorliegen. Aber gleichzeitig merken sie wohl auch, dass das Schema der Vergeltung auf diese konkrete Situation irgendwie doch nicht passt. Was kann der blinde Mann für sein Schicksal? Es klingt ein ganzes Stück Hilflosigkeit in ihrem Fragen durch.
Musik II: Chris de Burgh; The Storyman Theme (instrumental)
Liebe Hörerinnen und Hörer, wir Menschen suchen unser Leben zu deuten und fragen nach dem Zusammenhang von eigenem Tun und eigenem Ergehen Angesichts von persönlichem Leid, von Krankheit, zerbrechenden Beziehungen, Naturkatastrophen oder Armut in der Welt bleibt oft eine große Hilflosigkeit zurück. Und der Zusammenhang von Sünde und Strafe – wie in alten biblischen Traditionen unterstellt – wird dabei nur noch selten geknüpft. Dennoch die Suche nach der Ursache, nach dem Warum bleibt.
In unseren Tagen geschehen Erklärungsversuche meist mit Hilfe der Naturwissenschaft. Die Medizin zum Beispiel soll erklären worin die Ursache des Herzinfarktes oder der Krebserkrankung liegt, die Klimaforschung sucht nach Gründen für Naturkatastrophen, Ingenieurwissenschaft nach technischen Faktoren für einen Unfall oder die Psychologie nach Auslösern für Beziehungsprobleme. Wenn Begründungen als stimmig erlebt werden, können manche Menschen Leid besser akzeptieren. Eine Begründung – gerade wenn äußere Ursachen verantwortlich gemacht werden können – hilft, mit schweren Situationen umzugehen. Trotzdem bleibt häufig etwas offen, denn auch wissenschaftliche Erklärungen können nicht die Antwort auf ein letztes Warum liefern. Und dazu kommt noch: Im persönlichen Erleben und deuten des Erlebten ist jeder letztlich allein. Wieder beschleicht den Fragenden da die Hilflosigkeit.
Wie begegnet Jesus nun seinen fragenden Jüngern, die nach einer Erklärung suchen: Warum ist der Mann blind geboren? Jesus ist in seiner Antwort ganz klar: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt.“ Eine auch bis heute ganz entscheidende Antwort. Jesus durchbricht nämlich den allzu einfachen und schematischen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen, zwischen Sünde und Strafe.
Dabei kennt Jesus durchaus die Rede vom Verdienst, von Lohn und Strafe. Er betont an vielen Stellen seiner Predigt, dass unser konkretes Leben nicht folgenlos bleibt. Aber Verdienst und Gerechtigkeit in den Augen Gottes sind dabei anderen Maßstäben unterworfen als unseren. Das macht Jesus immer wieder deutlich. Gottes Maßstab ist die Liebe und darin ist für Gott möglich, was für den Menschen manchmal unmöglich scheint. So ist seine frohe Botschaft.
Ich empfinde diese Antwort Jesu als echte Befreiung. Er befreit mich von dem Zwang immer nach einer letzten Ursache suchen zu müssen. Er befreit mich von der fatalen Zusammenschaltung von Schuld und Strafe im Hinblick auf das Leid. Er befreit mich von dem Druck, ständig über Situationen urteilen zu müssen. Er befreit mich schließlich zu einem Glauben, dass Gott auch unser nicht Verstehen umfängt, dass Gott größer ist als unser Herz und unser Denken.
Musik III: Taizé: Dans nos obscurités
Womit habe ich das verdient? Manchmal wird die Frage nach dem Verdienst nicht nur in Leid gestellt, sondern im Gegenteil – in großem Glück. In einem Liebeslied singt die deutsche Popband Silbermond: „Wenn du neben mir liegst, kann ich es kaum glauben, dass jemand wie ich, so was Schönes, wie dich verdient hat.“² Unverdientes Glück einer großen Liebe, wahrgenommen als echtes Geschenk.
Von Menschen, die in ärmere Länder der Welt gereist sind, habe ich schon die Frage gehört: Womit habe ich es eigentlich verdient, in Deutschland geboren zu sein, in Wohlstand und Frieden leben zu können. Dahinter steht die tiefe Einsicht, dass wir es uns nicht aussuchen können, wie und wo wir geboren werden und dass das Leben Geschenk ist. Mit einem religiösen Begriff nennen wir das „Gnade“. Das Bewusstsein begnadet, beschenkt zu sein, ruft in mir tiefe Dankbarkeit wach. Eine Dankbarkeit die ich auf Gott beziehe. Mehr noch: Eine Dankbarkeit, die mich ermutigt, dieses Geschenk fruchtbar zu machen. Dankbarkeit ist für mich Ansporn zum Handeln
Im Bewusstsein beschenkt zu sein, kann eine echte Motivation für gutes Handeln liegen. Am kommenden Sonntag wird zum Beispiel in den katholischen Kirchen die Fastenaktion „Misereor“ durchgeführt, der evangelischen Aktion „Brot für die Welt“ entsprechend. Es sind beides christliche Aktionen, die mit ihren Projekten auf allen Erdteilen Menschen in Not unterstützen, gute Entwicklungen fördern und benachteiligte Menschen zu einem selbständigen Leben in Würde verhelfen. Diese Hilfsaktionen sind zum einen aus dem Impuls heraus entstanden, in der Nachfolge Jesu sich den Armen und Schwachen besonders zuzuwenden. Ein anderer Grund dieser Hilfe liegt für manche aber auch darin, das eigene unverdiente Geschenk des Wohlstands anderen weiter zu schenken und so Menschen in der Welt zu einem besseren Leben zu verhelfen. Deshalb ist der Aufruf der Hilfswerke in der Fastenzeit zur finanziellen Unterstützung auch ein Aufruf, das geschenkte Leben zu teilen und fruchtbar werden zu lassen.
Musik IV: Blackmore’s Night; Night At Eggersberg (instrumental)
Womit habe ich das verdient? Was ist Gnade? Wie gebe ich den Gegebenheiten meines Lebens Sinn? Und was ist Folge meines Tuns? Die Zumutungen und Glücksmomente im Leben einzuordnen bleibt für uns Menschen eine dauerhafte Herausforderung – vielleicht sogar eine Überforderung. Aber im Hinblick auf Jesus und seine Jünger finde ich eine Spur, diese Herausforderung anzugehen.
Im Hinblick auf Jesus kann ich nämlich meine Fragen an das Leben erst einmal einfach zulassen. Ich darf sie stellen, auch wenn ich weiß, dass nicht sofort Antworten bereit stehen. Manche Fragen sind vielleicht auch falsch gestellt und führen in eine Sackgasse, wie die Frage nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen, nach der Vergeltung von Sünde durch Leid.
Im Hinblick auf Jesus kann ich schließlich auch Grenzen meines Verstehens erkennen und anerkennen. Jesus fragt nämlich nicht immer nach der Ursache, sondern er nimmt den Menschen in seiner Gebrochenheit an und schenkt dadurch bereits eine innere Heilung. Denn angenommen durch ihn kann ich ermutigt meine ganz konkrete Lebenssituation anzunehmen lernen, mit dem Schönen und Schlimmen, mit allem, was es darin gibt. Angenommenes Leben hat die Chance vertiefter gestaltet zu werden.
In seinem Roman „Das Evangelium des Pilatus“ lässt der französische Romancier Eric-Emanuelle Schmitt Jesus einen verzweifelten Vater trösten, der angesichts des Todes seines siebenjährigen Sohnes fragt, ob es einen Gott geben kann, der kleine Kinder sterben lässt:
„Versuch nicht das Unbegreifliche zu begreifen … Rühre nicht an das, was deinen Verstand übersteigt, wenn du diese Welt ertragen willst. Der Tod ist keine Strafe, weil du nicht weißt, was er ist. Du weißt nur, dass er dir deinen Sohn raubt. Aber wo ist dein Sohn? Was fühlt er? Trotze nicht, schweige. Hadere nicht, hoffe. Du weißt nicht, wie Gott denkt, und du wirst es nie wissen. Aber du kannst sicher sein, dass Gott uns liebt.“³
Musik V: Angelo Branduardi: Il Cantico Delle Creature
Fragen stellen, sein Leben annehmen, um es vertiefter zu gestalten, glauben, dass Gott mich liebt. Vielleicht gehen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, mit diesen Gedanken ermutigt und mit Zuversicht in diesen Sonntag, der ihnen ganz unverdient geschenkt ist. Das wünscht Ihnen aus Hüsten Pfarrer Dietmar Röttger.?