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Das Geistliche Wort | 18.04.2014 | 08:40 Uhr

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Kreuzesorte – den Tod ins Leben holen

Autor: Es ist ein kalter Wintermorgen kurz nach 5 Uhr. Der Atem bildet weiße Wolken. Ich stehe auf dem Mittelstreifen der Autobahn, die Brüssel und Paris verbindet. Auf den Fahrbahnen brandet bereits der Verkehr, LKW’s und PKW’s. Aber sie drosseln ihr Tempo. Mehrere Polizeifahrzeuge stehen auf der Überholspur und sorgen mit ihrem Blaulicht dafür, dass Autofahrer das Gas wegnehmen. Neben mir auf dem Mittelstreifen stehen acht Menschen, wir halten uns an den Händen und blicken auf ein Holzkreuz. Es ist von brennenden Kerzen und elf Fackeln erleuchtet; und dann singen wir „Bleibet hier und wachet mit mir – wachet und betet.“ Wir beten ein Vaterunser und legen einander die Hände in den Rücken. Die Fackeln brennen für elf tote Menschen. Sie starben hier, genau vor zehn Jahren.

Musik 1: Track 4 Reposo von CD Mulatos, Oma Sosa (Interpret, Komponist, Arrangement), 2004 Barcelona, Skip Otà Records, LC 10482.

Autor: An einem Wintermorgen um 5 Uhr 23 verunglückte an dieser Stelle ein Reisebus mit 48 Personen. Sie waren unterwegs von Deutschland nach Paris, so wie viele, die jetzt an dieser Unfallstelle vorbei fahren. Dort wollten sie zum Frühstück eintreffen. Nun stehe ich hier mit ihren Hinterbliebenen: ihren Eltern, Geschwistern und ihren inzwischen erwachsenen Kindern. An einem Kreuz mitten zwischen den Autobahnen.

Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich begrüße ich Sie an diesem Karfreitag-Morgen. Ich bin Uwe Rieske und arbeite als Landespfarrer in der Notfallseelsorge.

Musik 1

Autor: Ein tiefes Bedürfnis führte Hinterbliebene der Opfer dieses Busunglücks an diesem Morgen zu diesem Kreuz. Einige sind quer durch die Republik gefahren, fast 900 Kilometer, um zur Unglückszeit hier zu sein. Gestern schon haben sie das Kreuz aufgesucht, haben Blumen nieder gelegt und einen Gedenkstein aufgestellt. Liebevoll pflegen sie diesen Platz. Jedes Jahr am Unglückstag zum Unglückszeitpunkt kommen sie zu diesem schlichten Holzkreuz. Es ist der Ort, der die Schwelle von Leben und Tod markiert. Hier sind sie ihren Kindern nahe, ihrem Bruder, ihrem Vater. Und zwar genau hier, auf dem Mittelstreifen, nicht irgendwo jenseits der Fahrbahn. Hier und nirgends anders ist der Gedenk-Ort.

Wenn ich auf einer Landstraße an einem Kreuz vorbeifahre, das an einen tödlichen Verkehrsunfall erinnert, frage ich mich oft: Wer pflegt diese Orte? Wer legt frische Blumen nieder oder zündet die Kerze an? Welche Lebensgeschichten, welche Erinnerungen und welches abgebrochene Leben verknüpft sich mit diesem Kreuz?

Heute nun stehe ich mit einigen, die ein solches Kreuz errichtet haben, mitten auf der Autobahn. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Schweigend stehen wir im Halbkreis und blicken auf das Kreuz, auf die Fackeln, die allmählich herunterbrennen.

Musik 1

Autor: Gestern Abend haben wir einen Gottesdienst gefeiert in einer benachbarten Kirche – viele Menschen aus der Ortsgemeinde waren dazu gekommen. Auch sie haben dieses Unglück nicht vergessen. Anschließend haben wir noch lange zusammen gesessen – eine der Angehörigen hatte Zeitungsausschnitte über das Unglück mitgebracht, die sie vor zehn Jahren sorgfältig gesammelt hat. Die Hinterbliebenen erzählen einander ihre Geschichten. Wie sie erfuhren, was passiert ist und wer bei ihnen war, ihre ersten Gedanken. Auch zehn Jahre danach sind die ersten Stunden nach dem Unglück sofort präsent, in allen Details. Diese Angehörigen verbindet ihre gemeinsame Geschichte. Sie sind wie eine große Familie.

Nach einer kurzen Nacht sind sie alle früh aufgestanden, um pünktlich zur Unglückszeit am Unglücksort zu sein, mitten zwischen den Autobahnen in der Winterkälte. Die belgische Polizei hat uns einen geschützten Zugang ermöglicht. Nichts hätte die Hinterbliebenen aufgehalten, die Autobahn zu überqueren, um an diesen Ort zu laufen. Und so gehe ich zu den Polizeiwagen, um Danke zu sagen für den Geleitschutz. Zwei der Polizeibeamten sagen: „Wir waren vor zehn Jahren auch im Einsatz bei diesem schrecklichen Unfall. Die Folgen bewegen uns bis heute.“ Ich lade die beiden ein, mitzukommen. Wenige Augenblicke später sind sie mit den Hinterbliebenen im Gespräch. Ein Vater, der bei diesem Unfall seinen Sohn verlor, kommt jedes Jahr an diesen Ort.

Sprecher: Es ist kaum zu glauben, wie schnell diese zehn Jahre vergangen sind und mit wieviel Trauer und Leiden sie gefüllt waren. Aber wo wir am Anfang noch das Gefühl hatten, unser Leben ist mit dem Tod unseres Kindes erloschen – so gibt es heute auch wieder Tage, an denen wir uns mit anderen freuen können.

Andererseits ist das “Mitfühlen” stärker geworden: die belgischen Kinder, die bei dem Busunglück in der Schweiz gestorben sind, die Opfer der Loveparade-Katastrophe, jedes misshandelte oder getötete Kind, über das wir lesen, weckt in uns tiefste Emotionen und Trauer, als wäre es ein Teil von uns.

Musik 1

Autor: Die Loveparade-Katastrophe im Sommer 2010 in Duisburg. Dort, am Ort der Massenpanik, an dem 21 junge Menschen starben, ist ein Gedenkort entstanden. Überlebende der Katastrophe und Eltern von Opfern pflegen und betreuen ihn. Auf kleine Steine kann man seine Gedanken schreiben. Die Eltern haben dafür gekämpft, dass der Unglücksort der Loveparade erhalten blieb – zunächst wollte man ihn zuschütten. Und auch sie wollten wie die Angehörigen der Opfer des Busunglücks am Jahrestag den Weg gehen, genau die Route, die damals ihre Verwandten und Freunde zur Loveparade wählten. Aus Spanien, aus Italien und Australien waren sie nun angereist, um am Jahrestag hier zu sein.

Der Tunnel in Duisburg, das Kreuz an der Autobahn nach Paris – seit dem Tod von geliebten Menschen sind sie für Angehörige keine beliebigen Orte mehr. Sie teilen das Leben in eine Zeit davor und danach.

Musik 2: Musik 1: Track 9 El Consenso von CD Mulatos, Oma Sosa (Interpret, Komponist, Arrangement), 2004 Barcelona, Skip Otà Records, LC 10482.

Autor: In der Notfallseelsorge werden wir dorthin gerufen, wo Menschen plötzlich gestorben sind. In Wohnungen, in Sportanlagen, in Hotels, an Flussufer, an Bahngleise und an Straßen. Plätze, die vorher völlig belanglos waren, werden dadurch mit Lebensgeschichten untrennbar verknüpft. Diese Einsatzorte bleiben mir lange im Gedächtnis. Aber erst recht und ganz besonders für die Betroffenen können sie eine tiefe, bleibende Bedeutung erhalten. Ich werde manchmal gefragt, ob das denn gut ist, solche Orte zu konservieren. Ob es nicht reicht, dass es Kirchen und Friedhöfe gibt als Orte der Trauer und des Gedenkens. Ich antworte darauf, dass Trauer ihren eigenen Weg und ihre besonderen Orte braucht. Ich habe tiefen Respekt vor den Gefühlen von Menschen, die sich an diesen Plätzen denen nahe fühlen, mit denen sie ihr Leben teilten und die ihnen so gewaltsam entrissen wurden.

Heute ist Karfreitag – der Tag steht für die Christinnen und Christen in aller Welt im Zeichen des Kreuzes Jesu. Über dem Ort seines Sterbens in Jerusalem steht heute die Grabeskirche. Der Hügel, auf dem sein Kreuz aufgerichtet wurde, wird in der Bibel Golgotha genannt, der Schädelfelsen. Er lockt jährlich Hunderttausende Pilger ins Heilige Land. Ich war vor einiger Zeit dort. Die Grabeskirche ist faszinierend. Sechs christliche Konfessionen teilen sich die Kirche und das Nutzungsrecht. Tausende Pilger kommen täglich hierher. Viele weinen. Im Halbdunkel der Kirche küssen sie die Marmorplatte, auf der der Legende nach Christus vor der Grablegung gesalbt worden sein soll. Lange Schlangen bilden sich vor dem Ring, in dem das Kreuz gestanden haben soll. Menschen wollen ihn berühren.

Heute am Karfreitag wird eine Prozession die 14 Stationen des Kreuzweges Jesu abschreiten und Tausende Pilger über die Via Dolorosa zum Ort des Sterbens Jesu führen. Sein Tod hat diesen Ort für immer verändert. Das Bedürfnis, diesen letzten Weg Jesu zu gehen, ist stark.

Musik 2

Autor: Was suchen die Menschen hier am Ort der Kreuzigung? Sie kommen mit ihrem eigenen Leid. Und denken an den gekreuzigten Jesus, den Sohn Gottes. Er hat selbst tiefste Verzweiflung und einen gewaltsamen Tod durchlitten. Im Leiden ist der Sohn Gottes all denen ein Bruder, die verzweifelt sind, voller Trauer, ohne Hoffnung. Wie die Gefährtinnen und Gefährten Jesu damals, als er hingerichtet wurde. Ohnmächtig mussten sie zuschauen. Hilflos standen sie unter dem Kreuz.

Dieses brutale Sterben Jesu zeigt: Gott selbst ist dort, wo ein gewaltsamer Tod gestorben wird. Gott selbst ist solidarisch mit jenen, die Leid, Tod und Trauer erleben. Er ist bei seinem Sohn, er ist bei den Sterbenden.

Und er ist bei den Hinterbliebenen. An diesen Kreuzes-Orten hat nicht nur das Sterben, sondern da hat das Leben seinen Platz. Der Trost und die Hoffnung haben hier auch ihren Ort. Genau hier. Die Grabeskirche in Jerusalem ist beides: Ort der Kreuzigung und Ort der Auferstehung. Dort, wo an das Sterben erinnert wird, ist das Leben ganz besonders intensiv präsent. Das gilt auch für die Kreuze am Wegesrand. Die Autobahn nach Paris ist ständig voller Autos – der Gedenkort in Duisburg liegt mitten an einer belebten Straße. Und dies ist gut. So sind mitten im Leben Orte entstanden, die an die Endlichkeit erinnern. Sie werden gepflegt. Sie lassen für einen Moment inne halten. Sehe ich Kreuze am Straßenrand, wird mir für einen Moment klar, wie kostbar und zerbrechlich das Leben ist. Das Gedenken an den Tod gehört mitten hinein ins Leben. Diese Orte der Trauer zeigen: Sie brauchen ihren Platz. Denn leben dürfen ist nicht selbstverständlich. Es ist und bleibt ein Geschenk. Auch mit dem Leiden und dem Sterben endet das Leben nicht und auch die Liebe nicht – die Erinnerung führt mitten hinein ins Leben. Gottes Macht endet an der Schwelle des Todes ebenso wenig wie die Liebe selbst.

Ich wünsche Ihnen, liebe Hörerin, lieber Hörer, einen gesegneten Karfreitag, der Sie mit denen verbindet, die Ihr Leben teilen oder die es mit Ihnen geteilt haben.

Aus dem Landespfarramt für Notfallseelsorge in Bonn grüßt Sie herzlich Ihr Pfarrer Uwe Rieske.

Musik 3: Some Other Time (4:29) von Wolfgang Haffner (Int, Comp, Arrang) / Hubert Nuss (Int.) / Lars Danielsson (Int.), Track 6 von CD Acoustic Shapes, Label: The Act Company, 2008, LC: 07644.

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