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Kirche in WDR 5 | 24.09.2014 | 06:55 Uhr
Aber bitte mit Gefühl
Guten Morgen,
„Ich koche die Eier nach Gefühl...“ gibt die Frau aus der Küche zur Kenntnis. Kontert ihr Mann aus dem Esszimmer: „Dann stimmt mit deinem Gefühl etwas nicht...!“ Eine Szene aus einem Loriot-Sketch. Ja, einfach etwas nach Gefühl machen – das geht heute nicht mehr. Alles wird genau gemessen und erfasst. Meine Armbanduhr, funkgesteuert, kann sogar 1/100 Sekunde abstoppen. Da gibt es keine Zeitfehler mehr. Die Ganggenauigkeit richtet sich nach der genauesten Uhr der Welt in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Und die Waagen werden auch immer genauer: Geeicht, elektronisch genau bis zur dritten Nachkommastelle, die kleine Gewichtssammlung im Holzkästchen gehört längst der Vergangenheit an, dient vielleicht noch zur nostalgischen Dekoration in Küchen und Wohnzimmern. Das vertraute „Darf’s auch ein bisschen mehr sein...?“ an der Fleischtheke wird argwöhnisch gehört – Betrug steht im Raum. Im Supermarkt-Werbespot wird sogar die Wurst gramm-genau auf die Waage geworfen. Alles exakt berechnet, alles genau bemessen. Da kann ja dann wohl nichts mehr schiefgehen. Oder doch?
Selbst bei der Zubereitung von Mahlzeiten gibt es das „...nach Gefühl“ nicht mehr. Mir wird angesichts der hohen Zahl von „Apps“ auf meinem Smart-Phone, die sich nur mit der Messung und Erfassung irgendwelcher Werte beschäftigen, manchmal ganz flau im Magen. Und: Natürlich gibt es nicht nur eine App zum Eierkochen! Fürs weich gekochte muss sich keiner mehr auf sein Gefühl verlassen, nur noch aufs Smartphone. Und dann die Wetter-Apps: wie oft ertappe ich mich, dass ich mich nach der Wetteranzeige des Handys kleide – nicht, wie früher, nach einem Blick nach draußen...
Messungen über Messungen – von Gefühl keine Spur mehr. Mich wundert nicht, dass einige Menschen da streiken. Es nicht mehr aushalten. Denn dieses Vermessen macht ja auch nicht Halt vor der eigenen Persönlichkeit z.B. am Arbeitsplatz. Da gibt es ganze Abteilungen in Firmen, die nichts anderes machen, als ihre Kolleginnen und Kollegen auf ihrer Leistung hin zu ver- und bemessen. Kaum noch Platz für ein privates Wort, kaum noch Platz für Gefühl(e). Und dann wundert es mich auch nicht, dass die Zahl der Ausbrüche ständig zunimmt. Vom Burnout bis zur echten Handgreiflichkeit. Letztlich Gefühls-Ausbrüche, Hilfeschreie: „Ich kann nicht mehr! Helft mir!“
Das, was jemand kann und was er oder sie bereit ist zu bringen, das kann man eben nicht vermessen wie ein Stück Wurst an der Theke oder wie den Garpunkt des Frühstückseis. Es ist nicht alles messbar – besonders nicht im Zwischenmenschlichen. Und daher: Ich wünsche uns allen mehr Mut zum Gefühl. Einfach auch einmal die „5“ gerade sein lassen, einfach auch einmal dem „Rheinischen Grundgesetz“ etwas zutrauen: „Et kütt, wie et kütt – und et hätt noch immer joot jejange...!“ Dann wird zwar nicht alles perfekt – aber vielleicht ein bisschen menschlicher. „Ävver bitte, bitte mit Jeföhl...!“
Einen gefühlvollen Start in den Tag wünscht Ihnen Ulrich Clancett aus Jüchen.