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Das Geistliche Wort | 03.07.2016 | 08:35 Uhr

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Arbeiten um zu leben oder leben um zu arbeiten

Autor: ”Arbeiten um zu leben oder leben um zu arbeiten?” Die Frage ist uralt, aber jede Generation entscheidet sie neu. Guten Morgen.

Als Jugendlicher habe ich mit meinem Vater darüber heftig diskutiert. Er war als Ingenieur für Maschinenbau durch und durch ein Pflichtmensch. Freizeit war für ihn vor allem dazu da, neue Kraft für seine Arbeit zu schöpfen. Er lebte, um zu arbeiten und für seine Familie zu sorgen. Reich ist er dabei nicht geworden, aber er war zufrieden, und wir kamen aus mit seinem Einkommen.

Ich ging Anfang der sechziger Jahre noch zur Schule und wusste nicht, was ich später beruflich einmal machen sollte. Aber eines war mir klar: So wie mein Vater wollte ich nicht werden. Der lebte, wie mir schien, nur für seine Arbeit. Ich aber wollte arbeiten, um zu leben, auch wenn ich vom Leben noch nicht viel kannte. So blieb diese Frage strittig zwischen meinem Vater und mir. Einig waren wir uns aber immerhin: Man sollte möglichst einen Beruf wählen, in dem man gerne arbeitet.

Musik 1: Track 02 Tu Vuo' Fa' l'Americano

von CD: Canzone Della Strada, Interpreten/Komponisten: Quadro Nuevo (Mulo Francel: Saxophone, Klarinetten, Mandoline; D.D. Lowka: Kontrabass, Perkussion; Andreas Hinterseher: Akkordeon, Vibrandoneon, Bandoneon: Evelyn Huber: Harfe, Salterio); Label: Glm Music Gmbh (Soulfood), München 2002, LC-Nummer: 11188 (FineMusic).

Autor: Es ist heute über fünfzig Jahre her, doch ich weiß es noch wie gestern: Am Tag der Arbeit, dem 1. Mai 1963, hörte ich im Radio eine Erzählung von Heinrich Böll mit dem Titel: „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Was für eine Ironie, ausgerechnet am „Tag der Arbeit“ von einer „Senkung der Arbeitsmoral“ zu sprechen. Aber ich merkte sofort: Hier geht es um das, worüber ich mit meinem Vater gerade streite: „Arbeiten um zu leben, oder leben, um zu arbeiten?“

Musik 2: Track 01 Roma Nun Fà la Stupida Stasera, von CD: Canzone Della Strada (GEMA-Angaben zur CD siehe Musik 1)

Sprecherin (weiblich): In einem Hafen an der westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze.

Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind, (...) ein drittes Mal: klick. Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt, aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges schließt die eilfertige Höflichkeit ab. (…)

„Sie werden heute einen guten Fang machen.“

Kopfschütteln des Fischers.

„Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.“

Kopfnicken des Fischers.

„Sie werden also nicht ausfahren?“

Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpasste Gelegenheit.

„Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“

Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über. „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich phantastisch.“

Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann nicht aus?“

Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.“

„War der Fang gut?“

„Er war so gut, dass ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen ...“

Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. (…)

„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern.

„Rauchen Sie eine von meinen?“

„Ja, danke.“

Zigaretten werden in die Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.

„Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen“, sagt er, „aber stellen Sie sich mal vor, sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen … stellen Sie sich das mal vor.“

Der Fischer nickt.

„Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei -, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?“

Der Fischer schüttelt den Kopf.

„Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen – eine Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden…“,

die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme,

„Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann…“, wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. (…)

„Was dann?“ fragt (der Fischer) leise.

„Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“

„Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte auch er einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid. (1)

Musik 3 = Musik 2: (Track 01 Roma Nun Fà la Stupida Stasera,)

Autor: Mehr als ein halbes Jahrhundert ist die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll heute alt. Ich weiß nicht, ob sie auch meinen Vater nachdenklich gemacht hätte. Vermutlich eher nicht. Dafür war er zu realistisch. Es war die Zeit des so genannten Wirtschaftswunders. Die meisten setzten auf Wachstum und Wohlstand. Geschichten wie die von Böll galten als sozialromantisch – nichts für Realisten und verantwortungsvolle, erfolgreiche Wirtschaftsboomer. Dennoch hat die „Anekdote“ von Böll in den vergangenen fünfzig Jahren ihre eigene Geschichte gehabt. Sie ist sogar in Schulbücher gekommen und hat dadurch viele Jahrgänge von Jugendlichen ins Nachdenken gebracht über das Thema: „Arbeiten wir, um zu leben oder leben wir, um zu arbeiten?“

Überall dort, wo es im Unterricht um „Werte und Normen“ in unserer Gesellschaft geht, da hat sie gewirkt, diese „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Sie hat gewirkt wie eine Medizin zur Senkung von zu hohem Blutdruck. Denn: Eine zu hohe Arbeitsmoral ist wie ein zu hoher Blutdruck, der behandelt werden muss, wenn man nicht ernsthaft krank werden soll.

Auch in der Bibel wird ein Mittel gegen die Gefahr einer zu hohen Arbeitsmoral vorgestellt: Das so genannte Sabbat-Gebot, das Vorbild für unsere heutige Sonntagsruhe. Die Frage „Arbeiten um zu leben oder leben, um zu arbeiten“ ist in der Bibel überhaupt besonders wichtig. Schon gleich am Anfang in der Schöpfungsgeschichte heißt es: Gott ruhte am siebten Tag von allen seinen Werken, die er geschaffen hatte. Das ist die Grundlage für den Sabbat als allgemeinen Ruhetag: Wenn Gott ruht, dann soll der Mensch nicht rastlos sein. Eine festere Verankerung dieser sozialen Errungenschaft als im Schöpfer selber ist kaum denkbar: Am Sabbat, dem Feiertag nach dem „Sechs–Tage–Werk“, sollen weder Mensch noch Tier arbeiten, sondern eben „ruhen“, sozusagen mit Gott „synchron“, also zeitgleich sein. Ein schöner Gedanke, finde ich. Aber anscheinend nicht ausreichend, um diesen Ruhetag nachhaltig zu schützen. Darum wird an anderer Stelle in der Bibel das Sabbatgebot noch einmal anders begründet:

Sprecherin (weiblich): Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligest, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, (...) auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat (...) Darum hat dir der HERR, dein Gott geboten, dass du den Sabbattag halten sollst. (2)

Autor: Hier wird das Gebot, den Sabbat zu halten, begründet mit dem Auszug des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten. In beidem, beim Sabbat wie beim Auszug aus Ägypten, geht es um Freiheit.

Wie der Auszug aus der Knechtschaft in die Freiheit führt, so soll auch der Feiertag frei bleiben von Arbeit. Hier geht es also nicht allein darum, eine zu hohe Arbeitsmoral zu senken. Sondern: Die Arbeit soll so begrenzt werden, dass sie nicht der Freiheit widerspricht, zu der Gott den Menschen bestimmt hat. Oder anders gesagt: Wir dürfen nicht zu Sklaven der Arbeit werden.

Musik 4 = Musik 5: Track 06 Canzone Della Strada, von CD Canzone Della Strada (GEMA-Angaben siehe oben Musik 1)

Autor: Heute erscheint mir die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Böll auf den ersten Blick überholt. Sie atmet noch den Geist der Wirtschaftswunderzeit. Schlimmstenfalls schürt sie noch das Vorurteil, dass in anderen Ländern nicht so tatkräftig angepackt wird wie in Deutschland. Außerdem scheint mir ihre „Medizin“ heute nicht mehr nötig zu sein; denn die Werte in unserer Gesellschaft haben sich gewandelt. Im Verhältnis zur Arbeit ist längst schon die Freizeit in den Mittelpunkt gerückt.

Das Pendel zwischen den Extremen von „Arbeiten“ und „Leben“ ist immer mehr zugunsten von Freizeit ausgeschlagen. Aber auch dabei ist es nicht geblieben. Heute ist das gesellschaftliche Ideal eher ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Freizeit. Die so genannte „work-and-life-balance“ ist das, was vor allem Berufsanfänger haben möchten. Sie wollen zwar viel Geld verdienen, um sich viel leisten zu können, aber nicht auf Kosten ihrer freien Zeit. So sind für sie zum Beispiel ein schickes Auto oder eine teure Wohnung keine Statussymbole mehr, für die man „im Hamsterrad laufen“ muss. Wichtiger ist für viele, Zeit mit Kindern und dem Partner oder der Partnerin verbringen zu können, gemeinsam etwas zu erleben.

Im Rückblick auf mein eigenes Berufsleben als Gemeindepfarrer möchte ich bezweifeln, dass mir diese Balance wirklich gelungen ist. Vielleicht habe ich sie nicht nachdrücklich genug angestrebt. Vielleicht bin ich schließlich doch so geworden wie mein Vater: ein Pflichtmensch. Jedenfalls aber habe ich gerne in meinem Beruf gearbeitet.

Es bleibt abzuwarten, wie sich das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit weiter entwickelt.

Die Antwort auf die uralte Frage: „Arbeiten, um zu leben oder leben, um zu arbeiten?“, die von der jetzigen Generation mit der „Balance von Arbeit und Leben“ gegeben wird, sie wird wohl nicht für immer gelten. Sie wird sich weiterhin zwischen den Extremen bewegen. Insofern ist wohl auch die nachdenklich stimmende „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll heute doch nicht ganz überholt, sondern eine Art Mahnmal, sich darauf zu besinnen, wozu der Mensch eigentlich bestimmt ist. Aber wie auch immer die folgenden Generationen die Frage beantworten, “ob wir arbeiten, um zu leben oder ob wir leben, um zu arbeiten“, wichtig ist in jedem Fall: Es geht darum, was für einen Menschen gut ist. Jesus hat dazu einmal gesagt: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ (3)

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten, einen nachdenklichen Sonntag.

Mein Name ist Henning Theurich, von der evangelischen Kirche in Bonn.

Musik 5 = Musik 4: Track 06 Canzone Della Strada, von CD Canzone Della Strada (GEMA-Angaben siehe oben Musik 1)

Literatur:

(1) Heinrich Böll „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ (1963), in: H. Böll, Romane und Erzählungen 1961–1970, Werke 4, hg. v. Bernd Balzer, Gütersloh o.J., S. 267–269.

(2) 5. Mose 5,12-17

(3) Markus 2,27

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