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Das Geistliche Wort | 23.10.2016 | 08:35 Uhr

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Unruhe begrenzen

Autorin: Sonntag - eine gute Zeit, Ruhe zu finden. Wäre da nicht… meine Unruhe. Wie ein ausgehungerter Tiger auf der Suche nach Nahrung durchstreift sie ihr Revier - meinen Körper, von den Zehen bis in die Haarspitzen. Und sie bringt dabei viel durcheinander: Scheucht die Sorgenvögel in meinem Kopf auf, lässt mein Herz schneller schlagen und versetzt Blutdruck und Puls in Startposition für Angriff und Verteidigung. Die Unruhe bändigen. Aber wie? Das hab ich mich oft gefragt. Im April habe ich es ausprobiert. Mit anderen. Mit Studierenden, die im Evangelischen Studienwerk in Villigst ein Stipendium erhalten. Ich bin dort Pfarrerin und Studienleiterin.

In einem Kloster im Harz legten wir eine „96-Stunden-Pause“ ein. Vier Tage Ruhe.

Musik 1: Track 1 O Lord, hear my prayer von CD Taizé Reflections Volume 1, Interpreten: Simply Taizé, Text: Jacques Berthier, Komposition: Jacques Berthier, Label: Integrity Music (2016), LC 12919.

Autorin: Es ist ein kühler Apriltag morgens um halb acht im Kloster Drübeck im Harz. Wir sitzen zu neunt auf Gebetsbänkchen im Meditationsraum im Kreis.

In der Mitte brennt eine Kerze. Ein Lied aus Taizé, ein Gebet, ein Gong.

Musik 1

Autorin:

Dann Stille.

Vier Morgen hintereinander.

Am ersten Morgen sind es 15 Minuten Stille,

dann 20 Minuten,

dann 25 Minuten,

dann 30 Minuten.

Jeden Morgen fünf Minuten mehr.

Die Studierenden wollen es so.

Ein Student sagt danach:

Sprecher:

„Endlich mal Stille!

Nichts sagen,

nichts hören,

nichts tun.

Nur die Stille klingt.

Das tut so gut!“

Autorin: Und eine Studentin erzählt mir später:

Sprecherin: „Mir sind einfach so Tränen übers Gesicht gelaufen,

weil ich endlich einmal gar nichts tun musste und ruhig werden konnte.“

Autorin: Am letzten Morgen im Kloster berichtet ein anderer:

Sprecher: „Am Anfang explodierte die Stille fast in mir, so laut ist sie gewesen.

Unzählige Gedanken, Gefühle und Bilder sind auf mich eingestürzt.

Ich habe versucht, ruhig zu atmen.

Aber es hat gedauert, bis ich mich beruhigt habe.

Bisher habe ich sowas noch nie gemacht.

Aber das Schweigen hat so gut getan, dass ich versuchen möchte,

zuhause weiter zu machen.“

Autorin:

Die Erkenntnis aus dem gemeinsamen Schweigen:

Es braucht Zeit,

still zu werden.

Es braucht Übung,

Eindrücke wahrzunehmen und wieder ziehen zu lassen.

Es braucht Gelassenheit,

Gedanken kommen und gehen zu lassen.

Es braucht Gottvertrauen

fürs stille Gebet.

Denn es ist nicht einfach, die innere To-Do-Liste loszulassen.

Schnell hängt man an Bildern fest oder an Gedanken,

an Stressgefühlen, Aufgaben, Ängsten und Sorgen.

Die Studentinnen und Studenten haben im Kloster nach Ruhe und Stille gesucht, die es in ihrem Alltag kaum noch gibt. Damit geht es ihnen nicht besser oder schlechter als der Mehrheit der Bevölkerung.

Statt Ruhe zu suchen, geht es deshalb vielleicht eher darum, Unruhe zu begrenzen. (1)

Musik 2: Track 10 My Soul is At Rest von CD Taizé Reflections Volume 1, Interpreten: Simply Taizé, Komponist: Jacques Berthier, Label: Integrity Music (2016), LC 12919.

Autorin:

Unruhe begrenzen.

Momente im Park oder in einer leeren Kirche.

Ein Gebet am Morgen, Laufen am Fluss, ein Spaziergang,

Ein freier Tag ohne To-do-Liste, ohne Termine und Pläne.

Das klingt machbar. Aber selbstverständlich ist es nicht.

Denn wenn so eine Ruhe-Zeit dann endlich da ist,

gelingt es oft nicht, ruhig zu werden.

Viele sind so auf Speed, dass es schwerfällt,

runterzufahren.

Andere fühlen sich getrieben, unruhig,

haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie nichts tun.

So geht es auch vielen Studierenden, mit denen ich im Begabtenförderungswerk, dem Evangelischen Studienwerk, zu tun habe.

Trotzdem suchen sie die Stille.

Vor einem Jahr haben mein Pfarrkollege vom katholischen Cusanuswerk und ich eine ökumenische Pilgerwanderung mit Stipendiatinnen und Stipendiaten gemacht. Fünf Tage sind wir von Erfurt nach Eisenach gepilgert. Übernachtet haben wir in einfachen Herbergen. Jeden Tag haben wir Andachten gefeiert, Lieder gesungen und uns über geistliche Impulse ausgetauscht. Besonders beeindruckt hat mich:

Nachmittags haben wir eine Stunde beim Wandern geschwiegen.

Plötzlich habe ich die Natur um mich herum ganz anders wahrgenommen, habe Geräusche gehört, die sonst im Gespräch untergegangen waren:

Vogelgezwitscher, Zirpen der Grillen, Gequake von einem Frosch, Verkehrslärm in der Ferne, Flugzeuggeräusche und meinen eigenen Schritt.

Ich habe viel mehr Details entdeckt, Müdigkeit und Leichtigkeit bewusster erlebt und mir beim Atmen zugehört. Ich war anders präsent, konnte meine Gedanken kreisen lassen, ohne über Gespräche nachdenken zu müssen.

Am Anfang waren die Studierenden zögerlich. Sie zweifelten daran, dass sie das mit dem Schweigen beim Wandern schaffen würden. Sie haben es geschafft. Denn offensichtlich hat es ihnen gut getan.

Einhellig berichteten die Studierenden von überraschenden Eindrücken, von Gedanken und Gefühlen, die sie ohne die Stille nicht wahrgenommen hätten. Zum Schluss waren sie es, die auf die Zeit in der Stille beim Wandern nachdrücklich bestanden haben.

Stille als wohltuende Auszeit. Ich muss nichts sagen.

Gedanken und Gefühle können kommen und gehen.

Ich brauche nichts festzuhalten, nichts zu beantworten.

Loslassen, schweigen und in die Stille hören. Neugierig sein, was kommt.

Unruhe begrenzen und Ruhe einkehren lassen.

Musik 3: Track 8 My Peace von CD Taizé Reflections Volume 1, Interpreten: Simply Taizé, Komponist: Jacques Berthier, Label: Integrity Music (2016), LC 12919.

Autorin:

Unruhe begrenzen.

Trotz dieser positiven Erfahrungen steht die Alltagsdevise dagegen.

Sie heißt:

Stillstand ist Rückstand.

Durchstarten, Schritt halten,

Druck standhalten, Gang hochschalten,

Leistung steigern.

Das sind die Antreiber, die in Dauer-Unruhe versetzen.

Über dieses Phänomen hat der Philosoph Ralf Konersmann ein Buch geschrieben.

Es heißt „Die Unruhe der Welt“. (2)

Unruhe ist Schicksal und Leidenschaft der Menschen zugleich – meint Ralf Konersmann.

Und in der Bibel lese ich:

Schon zu Beginn der Schöpfung gab es dieses komplizierte Spannungsverhältnis von Ruhe und Unruhe. Im Paradies waren weder Bewegung noch Leistung nötig.

Es herrschte Ruhe und Frieden.

Aber das änderte sich schnell.

Adam und Eva probierten den Apfel vom Baum der Erkenntnis.

Sie waren neugierig.

Sie wollten lernen, verstehen,

wissen, begreifen, fühlen und sehen.

Sie aßen den Apfel und vorbei war es mit der Ruhe.

Sie wurden aus dem Paradies vertrieben.

Damit begann das menschliche Bewusstsein.

Und mit ihm die unstete Suche nach Erkenntnis, nach Abenteuer, Fortschritt und Entwicklung. Die Ruhe war nun kein erstrebenswertes Ziel der Menschen mehr.

Und es kam noch schlimmer, wie uns die Geschichte vom ersten Bruderpaar der Bibel erzählt.

Kain und Abel. Kain arbeitete hart. Er bestellte die Felder.

Abel dagegen hütete Schafe und schien nicht viel zu tun, außer bei den Schafen zu sein.

Beide opferten Gott ein Brandopfer. Und Gott nahm das Brandopfer von Abel, dem Schafhüter an und nicht das von Kain, dem fleißigen Bauern.

Aus Wut und Eifersucht ermordete Kain seinen Bruder Abel.

Der Rest ist Geschichte.

Kain wurde bestraft und vertrieben.

Er musste nach dem Mord unstet und flüchtig weiter leben.

Er floh vor Gottes Zorn und ging ins „Land Nod“ (1. Mose 4,16).

Wörtlich übersetzt heißt das „Unrast“.

Unruhe und Unrast.

Sie sollten das menschliche Schicksal werden und bleiben.

Bis heute.

Kains Nachkommen bauten Städte und trieben Handel.

Deren Nachkommen forschten, bauten, entdeckten,

kauften und verkauften,

erfanden Kunst und Industrie,

Medizin und Technik.

Wunderbare Errungenschaften menschlicher Zivilisation,

die auf Erfindungsgeist und Schöpferkraft aufbauten

- und auf Unruhe und Unrast.

Musik 4: Track 20 O Lord the Light of My Life von CD Taizé Reflections Volume 1, Interpreten: Simply Taizé, Komponist: Jacques Berthier, Label: Integrity Music (2016), LC 12919.

Autorin: Unruhe begrenzen.

Genau dazu hat der katholische Theologe Johann Baptist Metz folgenden Satz geschrieben:

Sprecher: Die kürzeste Definition von Religion ist die Unterbrechung! (3 )

Autorin:

Unterbrechung von Hektik und Alltagsstress.

Unterbrechung von Leistungsdruck, Erreichbarkeit und Erfolgskennziffern.

Zur Ruhe kommen, tief durchatmen, still werden im Gebet.

Alles, was stresst und schmerzt, freut und ängstigt,

beschäftigt und umtreibt vor Gott bringen, beten, schweigen,

um wieder Orientierung zu finden,

um erkennen zu können, worum es eigentlich geht.

Schon früh haben deshalb Frauen und Männer das Leben im Kloster gewählt und leben so bis heute. Alle anderen müssen diese Einsichten mühsam entdecken und lernen.

So auch die Studentinnen und Studenten in unserem Studienwerk.

Unruhe begrenzen.

Schritt für Schritt und jeden Tag ein bisschen mehr.

Bei Andachten, Gottesdiensten, Pilgerwegen und geistlichen Angeboten.

In kirchlichen Häusern der Stille, bei Einkehrzeiten und Schweigemeditationen, beim Wandern in der Natur oder bei kleinen Pausen im Alltag.

Sich trauen, jeden Tag ein wenig mehr Stille zuzulassen.

Möge Gott alle, die sich dazu auf den Weg machen, begleiten und segnen.

Etwas Ruhe an diesem Sonntag, wünscht Ihnen Pfarrerin Kerstin Söderblom vom Evangelischen Studienwerk aus Villigst in Westfalen.

Musik 5: Track 12 Be Thou My Vision von CD Geistesgegenwart, Interpretin: Sarah Kaiser, Text: Methodistische Kirche.

Anmerkungen:

(1 ) Pfarrerin Angelika Obert, Die Unruhe begrenzen. Beitrag im Deutschlandradio Kultur vom 1.05.2016,

http://www.deutschlandradiokultur.de/schwere-kunst-der-musse-die-unruhe-begrenzen.1124.de.html?dram:article_id=352935.

(2 ) Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, Frankfurt am Main 2015.

(3 ) Johann Baptist Metz, Unterbrechungen. Theologisch-politische Perspektiven und Profile, Gütersloh 1981.

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