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Das Geistliche Wort | 25.02.2018 | 08:35 Uhr

Es gibt für alles eine Zeit

Autor: Länger schlafen, aufstehen, das Radio einschalten. Zum Frühstück ein gekochtes Ei, frischen Orangensaft, die Zeitung vom Wochenende. Der Sonntagmorgen hat für die meisten seine festen Rituale. Ist es gut so? Fehlt noch was? Christina Brudereck macht etwas anders. Sie lebt jeden Tag mit Ritualen und hat gerade ein Buch veröffentlicht über Rituale im Alltag. Ihre Idee für den Morgen:

O-Ton: Als allerallererstes verneige ich mich vor dem offenen Fenster vor dem Himmel. Und sage: meine Kraft kommt von dir. Meine Aufgabe kommt von dir. Meine Freude kommt von dir. Dieser Tag kommt von dir. Ich bin nicht alleine. Und ich glaube, das ahnt man ja: das macht einen Unterschied. Ob du zum Beispiel alleine in den Tag gehst oder ob du denkst, da gibt es eine große segnende Kraft, mit einem Gott, den ich sogar Du nenne, der mit mir durch diesen Tag geht.

Autor: Ein kleines Ritual am Morgen. So beginnt der Tag gleich ganz anders. “Für alles gibt es eine Zeit” heißt das Buch der Schriftstellerin und Theologin Christiana Brudereck. Mitten in Essen lebt sie in einem großen Altbau in einer evangelischen Kommunität. Sechs Erwachsene, fünf Kinder, ein gemeinsames Wohnzimmer und ein großer langer Tisch. Hier wird gegessen, getrunken, gebetet, gefeiert.

Sprecher/Jingle: Februar, Frühling, Internationaler Tag der Muttersprache. März, Mittag, Welttag gegen den Rassismus.

Autor: Feste, Jahreszeiten, Gedenktage. Morgen, Mittag, Abend. Es geht um die kleinen und großen Rituale, die das Leben ordnen.

O-Ton: Das Wichtigste ist, dass die Rituale mich unterbrechen in meinem Alltag, der sonst immer so weiterläuft. Wie es sowieso passiert und wie es im Kalender steht. Und die Rituale unterbrechen. Das Kirchenjahr unterbricht das Kalenderjahr mit seinen Festen und sagt: jetzt vielleicht Fasten! Jetzt vielleicht feiern! Jetzt freuen! Jetzt schmücken! Und auch der Tag, dass Morgengebet, das Abendgebet, vielleicht die Mittagsunterbrechung, das Tischgebet, also kleine Punkte zum Innehalten, die das normale, was sowieso läuft, bereichern. Und einen anderen Blick auf einmal einbringen.

Sprecherin:

Tischgebet

In der Küche hängt ein Leinentuch an der Wand. Über der Eckbank. Über der langen Tafel.

„Gott, die Liebe, wir danken dir. Amen.“

In roten Buchstaben gestickt. Umrahmt von bunten Blumen. Die Enkelin erzählt: Sie bestand darauf, die Oma. Irgendwer hatte ja immer schon Hunger und wollte sich am liebsten sofort den Teller füllen. Irgendwer musste sich immer noch die Hände waschen, kam zu spät und lies die anderen warten. Wie riefen immer alle durcheinander: „Das duftet aber gut!“ „Was gibt es denn?“ Und: „Ich habe Kohldampf!“ Wir ließen uns auf unsere Plätze fallen. Hier. Rund um den großen Tisch. Und sie bestand darauf, dass wir alle saßen. Uns einmal anguckten, kurz still wurden und uns die Hände reichten. Und dann sagte sie, die Oma: „Gott, du Liebe, wir danken dir. Amen.“

O-Ton: Also die Oma gibt es wirklich. Und ich finde das Tischgebet total wichtig. Nicht immer nur etwas runter zu schlingen, damit du satt wirst, sondern zu sagen: Ok, das ist jetzt etwas Besonderes. Was nicht viele Menschen auf dieser Welt zu haben. Dass sie wählen können, was sie essen, wann sie essen und wie viel sie essen. Das ist unglaublich. Das hat so etwas von dem Staunen vor dem Leben zu tun wirklich. Es ist ein Wunder. Und wenn wir satt werden, wollen wir auch unsere Dankbarkeit füttern. Und dass wir Verantwortung haben für andere. Wie wir mit dem, was uns anvertraut ist, umgehen. Das finde ich sehr wichtig. Also der kurze Moment vor dem Essen, eigentlich vor jeder Mahlzeit.

Musik: Kinga Glyk, Sad and Happy Blues, CD: Rejestracja, Track 1, Komposition: Kinga Glyk.

Sprecher/Jingle: Passionszeit, Ostern, Tag der Erde. Europatag, Pfingsten, Sommer.

Autor: So lauten einige Überschriften in dem Buch „Für alles gibt es eine Zeit“. Denn es geht um Rituale am Tag, im Jahr und im eigenen Leben. Heute zum Beispiel ist der zweite Sonntag in der Passionszeit, vor zehn Tagen war Aschermittwoch, und die Zeit bis Ostern gestalten manche als eine Fastenzeit. Christina Brudereck erinnert sich, wie es dann bei ihr zuhause zuging.

O-Ton: Die Wochen vor Ostern, sieben Wochen vor Ostern, die waren karg bei uns. Da gab’s keine Blumen im Haus zum Beispiel. Und das war ungewöhnlich für mein Elternhaus. Und dann Karsamstag wurden die Forsythien, die schon im Heizungskeller standen, hoch geholt in die Wohnung und alles wurde mit Osterglocken und Tulpen geflutet, und das Haus sah mit einem Mal total anders aus. Das ist für mich bis heute die beste Osterpredigt, die man halten kann.

Autor: Manche Rituale hat Christina Brudereck zuhause kennengelernt, im eigenen Elternhaus, manche hat sie für sich neu erfunden, andere hat sie sich von anderen erzählen lassen. In die Passionszeit gehört für sie ein Vergebungsritual, das sie mit zwei Freundinnen entwickelt hat.

O-Ton: Ich habe gedacht, das ist eine gute Tradition eigentlich in unserer Erzählgemeinschaft: Dass man vielleicht einmal im Jahr wenigstens sich das alles von der Seele redet. Oder von der Seele schreibt. Das ist in meinem Fall einfacher. Was eigentlich nicht geschafft wurde. Was ich verpasst habe. Was mir nicht gelungen ist. Gar nicht, weil jemand hinter mir steht, der sagt: Das musst du jetzt alles einsehen. Sondern weil es mich ja selber belastet. Weil es zwischen Menschen steht. Weil ich merke, ich muss noch was klären. Da ist noch was offen. Oder ich will auch nicht verpassen. Menschen nicht verpassen. Oder Ideale nicht verpassen.

Autor: Also hat sich die Theologin mit zwei Freundinnen zusammengetan. Alle drei schreiben in den Wochen vor Ostern auf, was sie nicht geschafft haben. Wo sie anderen nicht gerecht geworden sind. Wo sie hinter eigenen Vorsätzen zurückgeblieben sind. Alles, was ihnen jetzt auf der Seele liegt.

O-Ton: Vielleicht etwas, was man sich zum Jahresanfang vorgenommen hat. Ich wollte doch. Warum ist es mir nicht gelungen? Also man staunt, was einem alles einfällt. Und ich empfinde das als sehr befreiend. Zu sagen: Ok, das ist so. Da musst du jetzt mal einmal ehrlich sein mit dir selber. Und dann schicke ich das an meine Freundinnen. Und weiß dann, es gibt einen Abend, den verabreden wir. Dann lesen sie das. Ich weiß auch genau, wo sie sitzen, wenn sie das lesen. Und dann vernichten wir das. Wir vernichten das, was wir aufgeschrieben haben. Die Mail wird gelöscht. Und ich bekomme eine Rückmail: „Alles ist gut.“ Die schreiben jetzt nicht so ganz wörtlich: Deine Sünden sind dir vergeben. Aber du kannst jetzt noch mal neu anfangen.

Musik: Tracy Chapman, New Beginning, CD: New Beginning, Track 2, Text+Musik: Tracy Chapman,

Autor: Ein Gebet am Morgen, ein Segen am Abend, bestimmte Rituale in der Fastenzeit... solche Übungen tun gut. Sie helfen auch, die großen Veränderungen im Leben zu bewältigen. Christina Brudereck hat für sich Übungen entwickelt, die ihr in einer eigenen Lebenskrise geholfen haben.

O-Ton: Es war die Zeit meiner Scheidung. Und das hat viel mit... Ich bin schuldig geworden, ich habe etwas nicht geschafft. Das war doch so anders geplant. So anders gewünscht. Aber es hat natürlich auch etwas sehr Beschämendes, etwas sehr Demütigendes. Und wie kriegst du jetzt deine eigene Würde wiederhergestellt? Und dann gibt es sowas. Zum Beispiel schreibe ich, immer wenn ich ein neues Tagebuch anfange, schreibe ich meine Lieblingszeilen auf. Und der erste Satz, den ich immer schreibe, ist: die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und das zu lesen, und es auch wieder automatisch aufzuschreiben, zu denken: die war ja gar nicht angetastet, die ist ja unzerstörbar, die ist unkaputtbar. Es gibt etwas Heiliges in mir, einen heiligen Funken, da konnte sowieso keiner dran. Das war immer da. Das hat mir so gut getan. Und dann habe ich es erst recht aufgeschrieben. Und ich habe es trotzig aufgeschrieben. Aber ich habe es aufgeschrieben.

Sprecherin:

Klagen

Mir das Klagen nicht verbieten. Am Nachmittag um drei. Als Jesus von Nazareth starb.

Für eine Stunde. Rotz und Wasser. Wüten. „Warum?“ schreien. In Gottes Schürze weinen.

Mir das klagen nicht verbieten. Aber das Klagen begrenzen.

Und wissen: ich bin mit meiner Klage nicht alleine.

Autor: Das ist das Zweite, was Christina Brudereck sich in dieser Zeit überlegt hat. Denn irgendwann war ihr das zu viel. Mit dem Heulen, dem ständigen Fragen, dem Sich-im-Kreis-drehen.

O-Ton: Dann habe ich gesagt: So. 15:00 Uhr. Das war die Sterbestunde Jesu, da hat er geschrien und gewütet: Warum mein Gott hast du mich verlassen? Verstehe ich nicht! 15:00 Uhr, 1 Stunde. Das ist genehmigt. Also ich habe meiner Trauer etwas mehr Struktur gegeben. Und habe dann um 15:00 Uhr aber so richtig, da konnte ich auch rotzen, das ging auch interessanterweise, von null auf Nix. Sofort irgendwie. Manchmal bin ich wütend in den Wald gelaufen. Und habe laut gerufen. Manchmal habe ich wütend Tagebuch geschrieben. Manchmal habe ich richtig laut gebetet und Klagepsalmen gebetet. 16:00 Uhr war es vorbei. Spätestens. Und irgendwann merkte ich, ich brauche das nicht mehr. Irgendwann habe ich gemerkt, jetzt ist es erledigt. Es ist die Trauerphase gut durchgetrauert. Jetzt kannst du mal um 15:00 Uhr wieder was anderes machen.

Musik: Lenny Kravitz, Early Morning Blues, CD: Are You Gonna Go My Way (20th Anniversary Deluxe Edition), Disk 2/Track 9,

Autor: Christina Brudereck hat noch viel zu erzählen. Vom Kaffeebohnenritual, vom Barfußlaufen, von bestimmten Gedenktagen. Manche sagen: Das mit den Ritualen hört sich gut an. Aber decken sie nicht manchmal das wirkliche Leben zu? Kleiden etwas schön, was nun mal nicht schön ist? Wäre es dann nicht besser, einen Leserbrief zu schreiben statt bloß ins eigene Tagebuch, oder auf eine Demonstration zu gehen statt barfuß die Sonne zu grüßen? Christina Brudereck überlegt...

O-Ton: Man kann sich wirklich manchmal fragen: also kann man jetzt Ostern feiern? Leben, wo so viele sterben? Kann man jetzt singen, wo so viele klagen? Kann man jetzt überhaupt etwas essen, wenn so viele hungern? Und ich würde sagen: ja, stell dir mal vor, wir würden jetzt nicht mehr Ostern feiern. Was wäre jetzt besser geworden? Und ich würde sagen, auf eine Demo gehen und betend im Wald stehen, schließt sich nicht aus, sondern das Gebet im Wald gibt mir vielleicht die Kraft oder die Perspektive, warum ich eigentlich auf die Demo gehe oder was ich da eigentlich will oder für was für eine Welt ich eigentlich demonstriere. Wie es denn sein soll. Einer meiner großen Lehrer hat das Wort geprägt: Du musst bei Gott eintauchen, um bei den Menschen wieder aufzutauchen. Also ich bin weiter für die Rituale, gerade weil sie mich widerständig machen, in dieser Welt meinen Beitrag zu leisten. Also woher kommt eigentlich die Energie, um das durchzuhalten? Genau dafür sind sie da. Nicht um davon abzulenken.

Sprecher/Jingle: Mai, Himmelfahrt, Internationaler Tag der Pressefreiheit.

Autor: Der Sonntag ist anders als der Montag. Die Passionszeit anders als Pfingsten. Das Vergeben braucht andere Formen als das Feiern. Für alles gibt es eine Zeit. Im Großen wie im Kleinen. Manche Familien üben das wieder ein. Es gibt bei vielen eine Sehnsucht nach Ritualen. Abends zum Beispiel, wenn die Kinder schlafen gehen, noch einmal auf den Tag zurückzuschauen. Was war heute schön? Oder: Worüber hast du dich geärgert?

O-Ton: Das kann man dann alles noch mal besprechen und merkt, man geht doch mit einem anderen Frieden in die Nacht. Und manche sprechen ja auch einen Segen für ihre Kinder, oder singen vielleicht ein Lied oder sagen, ein Engel ist da. Du bist nicht alleine. Ich finde das für die Kinder schön, für Erwachsene aber auch schön.

Autor: Christina Brudereck, die am Morgen erst mal den Himmel begrüßt hat, sie hat auch am Abend eine Form, um den Tag zu beschließen. Sie sagt sich dann...

O-Ton: Alles, was ich heute geschafft habe und was ich nicht geschafft habe, das ganze Unerledigte, das möchte ich jetzt nicht mit in die Nacht nehmen. Sondern ich möchte das jetzt abgeben und ich lasse mich jetzt mal fallen in einen mütterlichen, göttlichen Schoß. Und da werde ich schön gewogen und kann gut einschlummern.

Autor: Für sie ist das nicht nur eine Art Wellness für die Seele. Es ist mehr. Die Rituale füttern den eigenen Glauben.

O-Ton: Vielleicht werde ich irgendwann so am Ende meines Lebens einschlafen. Dass ich denke: Ja, es wird einen Morgen geben. Ich kann in Ruhe gehen. Das kann ich ja jeden Abend üben. Mich gelassen Gott zu übergeben.

Autor: Rituale unterbrechen, sie ordnen den Tag und das Jahr, sogar das eigene Leben. Mit dem Buch von Christina Brudereck bin ich mir sicher: Das eine oder andere werde ich mir wieder angewöhnen.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag und eine gute Woche.

Ihr Titus Reinmuth, Rundfunkpfarrer aus Wassenberg.

Musik: Melody Gardot, Goodnite, CD: Worrisome Heart, Track 9, Text+Musik: Melody Gardot

„Audio der Internetfassung auf www.kirche-im-wdr.de mit lizenzfreier Musik.“

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