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Das Geistliche Wort | 18.03.2018 | 08:35 Uhr

“Blau“ – Die Farbe der Sehnsucht und der Angst“

"Begegnung mit Frauen am „blauen“ See von Managua

Guten Morgen!

Landeanflug auf Managua, der Hauptstadt Nicaraguas letztes Jahr in der Karwoche. So langsam steigt die Aufregung, gleich, endlich nach einem ¾ Jahr sehen wir unseren Sohn wieder. Wir, das sind mein Mann und ich. Unser Sohn macht hier ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Internat für Kinder aus sozialen Brennpunkten. Unser Wunsch ist es, ihn zu sehen und die Menschen kennenzulernen, mit denen er zusammen lebt und arbeitet.

Vom Flugzeug sehen wir eine wenig beleuchtete Hauptstadt, wenn da nicht die meterhohen bunt beleuchteten Lebensbäume wären, die den Eindruck von Lebendigkeit vermitteln sollen, in einem Land bitterster Armut. Das hat die First Lady inszeniert: Ein teures und umstrittenes Schönheitsprogramm, das ablenken soll von der beklemmenden Realität, die von Armut und Perspektivlosigkeit bestimmt ist.

Gelandet –Tropische Hitze und Chaos von klapperigen, hupenden Autos. Ausrangierte US Busse und Eselskarren empfangen uns. Wellblechhütten an Straßen, Menschen auf staubigen Wegen, Kinder überall und Menschen auf Stühlen und Sesseln umgeben von Massen von Müll am Straßenrand. Das Leben ist draußen, auf der Straße.

Musik I

Vom Dach unseres kleinen Hotels, fällt der erste Blick auf den Managuasee, der zweimal so groß ist wie der Bodensee. Er sollte die vegetarische Lunge der Stadt sein. Das sieht schon toll aus – von weitem –, das blaue Wasser des Sees geht über in die blau grauen Schlieren des Himmels und im Hintergrund, sozusagen als markante Skyline, die Vulkankette, die sich wie ein Bewacher über der Stadt erhebt.

Ab ins Getümmel. Es herrscht Trockenheit, also Staub überall, Unebenheiten auf Straßen und Wegen. Und Hütte, an Hütte… Wir sehen fast nur einstöckige Gebäude, ein Wirrwarr an Straßen, die keinen Namen haben. Gut, dass unser Sohn so gut orientiert ist, ich würde nichts wiederfinden. – Nach dem verheerenden Erdbeben von 1972 waren 90% der Stadt zerstört. Die Folgen sind bis heute sichtbar. Es hat keinen systematischen Wiederaufbau gegeben. Bei der Verteilung von Millionengelder zum Wiederaufbau, auch aus Deutschland, ist das Volk leer ausgegangen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, mit den Menschen kleine Häuser zu bauen, die ihnen Schutz geben. Sie hausen in Baracken, die sich in Endlosreihen im Dunst des Staubes nur erahnen lassen.

Eigentlich hat es in Nicaragua kaum gute Zeiten gegeben. Nicht nur wegen der Naturkatastrophen. Brutalste Diktatoren, Verschleppung und Ermordung von Oppositionellen gehörten zum angsterfüllten Alltag der Menschen. Endlich, Ende der 1970er Jahre, der Putsch durch die kommunistischen Revolutionäre, die Rückhalt in einer breiten Bürgerbewegung hatten. Tausende ließen ihr Leben im Kampf für ihre Grundrechte. Auch der Priester Ernesto Cardenal gehörte zu den Oppositionellen. Für ihn ist klar, ein Christ kann nicht gleichgültig sein gegenüber den politischen und sozialen Problemen seines Volkes. Diese Revolution ist die erste, die auch von katholischen Priestern mitgetragen wird im Einsatz für eine gerechtere Welt mit Ernährungssicherheit, Schulbildung und Eigentum, vor allem für die Kleinbauern. Einige der Revolutionäre sind schließlich der Macht erlegen.

Zum Beispiel der jetzige Staatspräsident. Einst Kämpfer für mehr Menschlichkeit und Weggefährte von Ernesto Cardenal steuert er jetzt eine Diktatur. Ernesto Cardenal dagegen hat sich losgesagt vom autoritären Führungsstil und hat viele Jahre dafür gearbeitet, dass Menschen lesen und schreiben lernen, sich ihrer Würde bewusst werden.

Musik II

Bei unserem Besuch in Managua fahren wir in die Armenviertel der Stadt. Es ist Karfreitag. Vor dem Anblick des Leidens werden wir hier nicht verschont. Wir fahren in Begleitung des Sozialpädagogen Don Baez. Er kennt sich aus, er ist mit der Armut täglich in Zwiesprache. Ihm sind das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft förmlich ins Gesicht geschrieben. Wir fahren Schotterstraßen. Im staubigen Dunst sehen wir Baracken aus Holz, Hütten, die kaum einem heftigen Wind standhalten.

Sie stehen in zweier- und dreier Reihen. Manche liegen direkt an dem großen Managuasee auf den wir zusteuern. Von weitem sehen wir eine unendliche blaue Fläche, die zum Baden einlädt. Aber Vorsicht, das unschuldige Blau trügt. Kaum aus dem Auto gestiegen, sehen wir Berge von angeschwemmten Müll. Dieser See ist die größte Kloake Mittelamerikas. Hier werden täglich tausende Tonnen Müll entsorgt. Die Industrie leitet zudem Schwermetalle in den See. – Aber genau hier leben sie, die armen Familien. Es sind meistens alleinerziehende junge Mütter mit ihren Kindern.

Die Frauen sind jung, haben Kinder auf dem Arm, an der Hand. Wir sehen sie von weitem kommen. Wollen sie zu uns? Ja! Wir sind als Europäer unverkennbar. Sie gestikulieren, zeigen auf die Müllberge. Sie überschlagen sich beim Sprechen. Wir verstehen kein Wort, spüren aber, dass sie eine Botschaft haben. Sie erhoffen sich natürlich etwas von uns. – Eine Frau sticht heraus aus der Gruppe heraus. Sie ist groß und hager, ihre graublauen Augen liegen tief in ihren Augenhöhlen. Ihr Kleid ist aus blauem Leinen, schlicht, passend zur Farbe des Sees und sie ist schwanger. Sie zeigt auf ihre Arme und die ihrer ältesten Tochter Melissa. Pusteln, rote eitrige Pusteln. Sie sagt nichts. Guckt uns mit ihren großen Augen an. Die anderen Frauen erklären. „Hier, aus diesem See holen wir unser Wasser zum Waschen und Duschen, wir haben kein Wasser in unseren Hütten. Und wir sind alle krank.“ Don Baez erklärt. „Die, die hier am See wohnen, den geht es am Schlimmsten. Sie leiden unter Hepatitis und dauerndem Durchfall. Und da hilft nichts mehr. Sie kommen hier nicht weg.“

Mein Blick ist auf die große hagere Frau gerichtet. „Ich heiße Barbara.“ Das ist das, was ich so hinbekomme in Spanisch. „Ich heiße Julia“, der Rest muss mir übersetzt werden. Sie lädt uns ein mit zu ihr in die Hütte zu kommen. Ich zögere, geht das, Armut angucken, in dem ganz privaten Bereich einer kleinen Hütte? Don Baez teilt mein Zögern nicht. „Sie wollen es dir zeigen, damit du erzählst, wie Frauen in Managua leben müssen.“ Also gehen wir. Es gleicht einer Prozession.

Das Ziel, förmlich eine heilige Stätte, eine Hütte ohne Tür, stattdessen ein bunter Vorhang, dahinter nur ein Raum, Lehmboden und hinten der See. Abfall türmt sich drinnen wie draußen, ein erloschenes Holzkohlenfeuer mit einem Gefäß, das wohl mal ein Topf war, drei angeschimmelte Matratzen auf dem Boden, kein Strom, kein fließendes Wasser. Mir stockt der Atem, Karfreitag in Managua.

Und da steht diese Frau, Julia, um sie herum, so als müssten sie der Mutter Halt geben, Melissa und zwei weitere Kinder. Sie guckt mich an und fragt: „Willst du mein Kind haben?“ Sie zeigt auf ihren schwangeren Bauch. „Nimmst du es mit nach Deutschland?“ – Sie sagt es so, als ob sie die Antwort schon kennt und weiß, dass sie das Leiden selbst ertragen muss, ihr niemand die Not abnimmt. Sie steht da wie eine Pietà, eine leidende Mutter – so wie Maria mit Jesus.

Ich bin beschämt an diesem Karfreitagsort, der wohl immer ein Karfreitag bleiben wird. Ein Ort, an dem niemand aus der akuten Not erlöst wird und niemandem geholfen wird, sich selbst zu erlösen. Don Baez löst die Situation, in dem er lächelt und sagt: „Mensch Julia, du weißt doch, dass niemand ein Kind mitnehmen kann, da käme ja ganz schnell die Polizei.“ Das ist ihr natürlich klar. Aber was will diese Frau mir eigentlich sagen? Vielleicht „schaut uns Frauen in Nicaragua an, wir hatten keine Wahl im Leben, da wir kaum zur Schule gehen konnten, viel krank waren. Das Leben hat hier keine hellen Seiten, für niemanden, keine Arbeit, kein Geld, den ganzen Tag verbringen wir in diesen Hütten und auf der Straße. Viele von uns sind Missbrauchsopfer seit Kindertagen. Wir schweigen, weil uns niemand glaubt, dass wir über Jahre von unseren Onkeln, Brüdern und Vätern sexuell misshandelt werden. Was sollen wir tun? Wir kommen hier nicht raus. Wir können gerade etwas lesen und schreiben, das hilft uns nicht weiter, wir müssen uns ja um unsere Kinder kümmern.“ Ich verabschiede mich von Julia und frage, ob sie schon weiß, ob es ein Junge oder Mädchen wird. Es wird ein Mädchen und es gibt auch einige Vorsorgeuntersuchungen und sie kann auch im Krankenhaus entbinden. Wenigstens eine kleine Sicherheit, die mich nicht wirklich beruhigt.

Musik III

Ich frage Don Baez nach den Hilfsangeboten der katholischen Kirche. Ein Achselzucken. „Siehst du hier eine katholische Kirche?“ Ja, ich sehe ganz viele propere kleine Kirchen. Aber katholisch? Nein! „Das sind die Pfingstkirchen und die Zeugen Jehovas, die bauen an jeder Ecke eine Kirche. Jeder dritte hier ist Mitglied einer dieser Erneuerungskirchen. Ihre Theologie beruht auf einem Belohnungs- und Bestrafungssystem und unterstützt die Passivität und Resignation vor der Realität.“

Ja aber, wo sind denn dann die Katholiken? Wo sind die, die sich dafür einsetzen, dass das Leben von Julia und den anderen Frauen so kein menschenwürdiges Leben ist? Die Kirche ist leise, sie hat mit dem Staatspräsidenten offenbar einen Nicht-Angriffspakt geschlossen. Sie prangert die wachsende Armut, Chancenlosigkeit kaum an, denn dies zu tun, wäre eine Attacke gegen die Politik des Präsidenten und würde Sanktionen für die Kirche nach sich ziehen und manches Privileg zu Nichte machen.

Bei mir bleibenTraurigkeit und Fassungslosigkeit über dieses Dauerleiden von Frauen und ihren Kindern zurück. Alles scheint so hoffnungslos, es ist das ungute Gefühl, nichts machen zu können. Wir können ja wieder weg, diese Frauen aber sind zum Bleiben verurteilt. Ich weiß, ich kann Julia nicht retten. Warum müssen diese Frauen mit ihren Kindern so leben? Ich finde keine Antwort, in mir bleibt das Bild des Karfreitages, der hier nie enden wird.

Musik IV

Ich werde Julia nicht vergessen. Dieses Versprechen könnte ich ihr geben, aber sie hat mich nie darum gebeten. Ich nehme die Frauen mit in das privilegierte Deutschland, in dem ich über sie erzähle. Dieses Erzählen ist eine Solidarisierung, aber es muss doch etwas geben, das über die Betroffenheit hinausgeht?

Wo sind die Fürsprecher, die Ankläger, die Mutigen, die laut rufen: „Julia, du und deine Freundinnen, ihr seid keine Karfreitagsfrauen. Ihr seid Frauen, die im Licht leben müssen. Und wir helfen euch dabei.“

Ernesto Cardenal hat einmal gesagt: “Es ist nicht leicht, die Welt zu verändern, aber der Versuch lohnt.“ Der Satz bleibt eine Parole, wenn es nicht immer wieder Menschen gäbe, die diesen Versuch persönlich unternähmen.

Für mich ist Don Baez einer von ihnen. Er sieht die Verhältnisse der Frauen am verseuchten Managuasee. Er resigniert nicht. Er hat konkrete Ziele vor Augen: Saubere Hütten, gute Ernährung der Kinder, Schulbildung und Selbstversorgung der Frauen durch Mikrokredite. Er ist davon überzeugt, dass das, was wir wirklich wollen, möglich ist. Das ist eine Ansage, die mich beeindruckt. Don Baez darf mit seiner Arbeit nicht alleine stehen und braucht Unterstützung. Diese Unterstützung fängt damit an, dass die Problematik in die Welt getragen wird.

Übrigens: Ich habe dazu noch einen Unterstützer gefunden. Ich sah ihn drei Tage nach Karfreitag, an Ostern vor einer Apotheke stehen – mitten in Managua. Es ist eine meterhohe Statue des Auferstandenen. Die Füße vom Boden schon abgehoben, die Arme weit ausgebreitet, aus den Dornen der Karfreitagskrone erwachsen goldene Strahlen, die in alle Himmelsrichtungen weisen. Christus kommt förmlich auf einen zu und heißt die Vorübergehenden willkommen. Die Farbe seines wallenden Gewandes ist: blau. Genau die Farbe, die mich wieder an Julia denken lässt. Das blaue Gewand deute ich als Zeichen: Du, Julia, bist aufgenommen in Christus. Und Du, Julia, mit deinem blauen Gewand, bist sein Spiegelbild. Ob der Karfreitag doch noch eine Erlösung kennt?

Aus Essen grüßt Barbara Mikus-Boddenberg

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