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Das Geistliche Wort | 19.05.2019 | 08:40 Uhr
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Versöhnung konkret
Autor: Es beginnt im Sommer 1991. Mit einer Gruppe
rheinischer Christen reise ich in die russische Stadt Pskow, um Versöhnung zu
suchen. 50 Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion.
Die Stadt hatte unter den deutschen Besatzern besonders gelitten. Und wir
fragen uns: Wie werden wohl die russischen Gastgeber reagieren? Und: Versöhnung
– wie macht man das eigentlich?
An den Gräbern der Opfer sagt
der damalige rheinische Präses Peter Beier:
O-Ton
Peter Beier: Der Tod ist ein Meister
aus Deutschland. Dieser schlimme Satz wird lang nachwirken. Retten wir uns in
den Glauben an den Gekreuzigten und bergen wir uns in seinen Armen, dass nicht Tod die Zukunft dieser Welt
bestimmen soll, sondern die Liebe des gekreuzigten Christus.
Musik
1: Billy Joel: Leningrad; CD: Billy Joel, Greatest
Hits Vol. III, 1989, Track 6, LC 00162, Text Musik Interpretation: Billy Joel
Autor: Nach dem Fall der Mauer und der Wende in den
Ost-West-Beziehungen soll ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Überwindung
des kalten Krieges, eine stabile Friedensordnung, der Bau am großen
europäischen Haus – mit Russland. Viele Träume erhalten in diesen Jahren
Nahrung. Gleichzeitig geht es in Russland eigentlich ums nackte Überleben.
Anfang der 90er Jahre herrschen chaotische Verhältnisse. Nicht wenige Menschen
leiden Hunger. Die Geschäfte sind leer; die staatlichen Institutionen kaum
handlungsfähig; ein soziales Netz ist nicht wahrnehmbar. Für Arme und Kranke
sind diese Jahre bedrohlich. Menschen mit Behinderungen werden in
menschenunwürdige Anstalten abgeschoben, ohne Förderung, ohne Perspektive.
Die Liebe des gekreuzigten
Christus muss Folgen haben. Versöhnung muss Folgen haben – konkrete! Das ist
mir und allen Mitgliedern der rheinischen Delegation klar. Noch während der
Tage in Pskow entsteht zwischen Mitgliedern der Wassenberger Kirchengemeinde
und Pskower Eltern von behinderten Kindern eine Idee. Die Idee eine Schule für
Kinder mit schweren, mehrfachen Behinderungen zu errichten. Eine Schule, wie es
sie bisher noch nicht gibt in Russland. Eine Schule für Kinder, die als nicht
förderfähig gelten und aus dem Bildungssystem aussortiert werden. Das
außergewöhnliche Bündnis stößt zunächst auf skeptische Behörden. Aber Wagemut
und Beharrlichkeit setzen sich schließlich durch.
O-Ton
Alexandra Pyshowa: Das ganze Jahr wurde das
Projekt betreut von der russischen Seite. Als es fertig war, hat Kalinin
gesagt: Ich habe überhaupt nicht geglaubt, dass sowas zustande kommt. Da kommt
jemand aus einem kleinen Dorf, findet man überhaupt nicht auf der Landkarte,
und macht sowas (Lachen).
Autor: Eine Förderschule in Pskow! Es ist ein Glücksfall,
dass die Rurtalschule in Heinsberg-Oberbruch, als pädagogisch-fachliche
Partnerin gewonnen werden konnte. Eine Förderschule mit dem Schwerpunkt
geistige Entwicklung. Zwischen Pskow, Wassenberg und Oberbruch wird nun
fieberhaft gearbeitet. Ein erstes Mitarbeiterteam wird eingestellt, das
Grundstück bestimmt. Aus Jugoslawien wird ein Fertiggebäude geordert, denn in
Russland gibt es kein Baumaterial. Und bis zur Eröffnung des Heilpädagogischen
Zentrums Pskow im September 1993 müssen natürlich zur Finanzierung noch genug
Spenden und Kollekten gesammelt werden.
Währenddessen werden die
Lehrer und Therapeuten an der Rurtalschule aus- und fortgebildet. Bei solch
einem Projekt kommt alles auf die Haltung an. Alle müssen vor allem eins
lernen: Partnerschaft braucht Augenhöhe und Respekt. Und Hilfe für behinderte
Menschen geschieht im Sinne eines christlichen Menschenbildes nicht gönnerhaft
„von oben herab“, nicht als Einbahnstraße. Sensibilität und Wertschätzung sind
nötig. Ein Prozess, bei dem sich alle Beteiligten verändern. Eine schwierige
Lektion - erst recht für Menschen in einem Land, in dem behinderte Menschen im
Alltag kaum vorkommen. Oder bestenfalls Mitleid hervorrufen.
O-Ton
Swetlana Andreewa: Unsere Aufgabe ist,
Menschen, die Hilfe brauchen, zu helfen. Aber in dieser Situation, wenn wir
Hilfe geben, das hilft uns sehr, uns selbst in der Tiefe kennenzulernen. Weil
in der Beziehung zwischen Menschen, die Hilfe geben und Menschen, die Hilfe
bekommen, ganz feine Beziehungen sind. Mit Respekt, so dass keine Beleidigung
kommt, dass wir versuchen, so mit diesen Menschen und Kindern umzugehen, dass
wir zeigen, wir schätzen einander.
Musik 2: Scorpions: Wind of change; CD Scorpions, Crazy World, Track 4, 1990, LC 00268, Text und Musik:
Klaus Meine
Autor: Schnell wird das Heilpädagogische Zentrum
Anziehungspunkt für viele Besucher. Neue Projekte entstehen. Im Laufe der
folgenden Jahre unterstützen Christen aus dem Rheinland ein Hospiz,
Suppenküchen zur Armenspeisung, ein Waisenhaus und eine Kinderstation.
Auch das Heilpädagogische
Zentrum wächst rasant. Es kann ja nicht bei einer Schule bleiben. Sie braucht
Ergänzung – für die ganz Kleinen und die Älteren. So wird zunächst ein
Frühförderzentrum aufgebaut mit Beratung für Eltern und frühen therapeutischen
Maßnahmen, für ihre behinderten Kinder, dann Kindergärten. Schließlich
entstehen betreute Wohngemeinschaften in der Stadt für Erwachsene mit
Behinderungen. Auch wird es nötig, eine Perspektive für die Schulabgänger zu
schaffen. Das geht nur mit einer neuen Struktur. Denn der Bau einer Werkstatt
für behinderte Menschen ist für die kleine Kirchengemeinde in Wassenberg eine
Nummer zu groß. 1999 wird die „Initiative Pskow in der Evangelischen Kirche im
Rheinland“ gegründet, ein Dach für die verschiedenen Projekte. Die „Initiative
Pskow“ ist mittlerweile der Ansprechpartner für die Stadt und den Bezirk Pskow.
Eine eingespielte, durch Verträge abgesicherte Zusammenarbeit, in der sich die
russischen Behörden durchweg als verlässliche Partner erweisen.
Das Heilpädagogische
Zentrum geht 1993 mit nur sieben Lehrerinnen und Lehrern, einer
Krankenschwester und einem Therapeuten sowie 42 Kindern an den Start. Mit Hilfe
des Bezirks sind ein Vierteljahrhundert später an fünf Standorten 230
Mitarbeiter tätig. Und es werden fast 700 Kinder, sowie Schülerinnen und
Schüler betreut und gefördert. Darüber hinaus ist die Werkstatt zu einem
Leuchtturmprojekt geworden. Die dort hergestellten „Pskower Engel“ sind in
Deutschland und Russland weit bekannt. Ein Engel mit einer Behinderung, ein
Handschmeichler aus Holz. Er hat sogar seinen Weg in die Weltraumstation ISS
gefunden. Der Wandel vom einem Versöhnungsprojekt der Kirchengemeinde mit
betroffenen Eltern hin zu einem umfassenden System qualifizierter Förderung,
Betreuung und Begleitung behinderter Menschen ist atemberaubend. Nicht ohne
Grund spricht eine große Tageszeitung vom „Wunder von Pskow“. Bei einem
Musikprojekt ist die Hymne zu diesem Wunder entstanden. „Wir zusammen“ heißt
das Lied. Gespielt wird es von der inklusiven Band „Rur-Rock“ mit behinderten
und nichtbehinderten Schülern aus Pskow und aus Heinsberg.
Musik 3: Rur-Rock: Wir zusammen; CD: Rur-Rock, Wir zusammen, Track 6, Eigenproduktion, Musik und
(russ.) Text: Vadim Andreev
Autor:
Direktor
Andrej Zarjow erläutert die neue Rolle des Heilpädagogischen Zentrums in der
russischen Föderation:
O-Ton Andrej Zarjow: Das Heilpädagogische Zentrum ist eine
beispielhafte Einrichtung für die Arbeit mit Menschen mit geistigen und
mehrfachen Behinderungen geworden. Es ist eine sogenannte föderale Ressourceneinrichtung
für den Systemaufbau dieser Arbeit geworden. D.h.: Das Bildungsministerium
Russlands unterstützt die Arbeit unserer Fachkräfte, damit Pädagogen aus
anderen Regionen zu uns kommen können, um hier Fortbildungen und Hospitationen
durchführen zu können. Wir bereiten diese Fachkräfte vor, wie sie in anderen
Regionen Russlands mit behinderten Menschen arbeiten können.
Autor:
Das
Pskower Modell zieht Kreise. Aus ganz Russland kommen Fachleute, um sich zu
informieren und die entwickelten Konzepte zu übertragen. Regelmäßige
Veranstaltungen und Kongresse tragen zur Weiterentwicklung der Arbeit bei. Und
die Universität hat eine Heilpädagogische Fakultät eingerichtet, damit neue
Fachkräfte ausgebildet werden. Die Stadt und die Region sind stolz auf das, was
hier entstanden ist. Pskow gilt nicht ohne Grund als sozialste Stadt Russlands.
Im Sommer finden die s.g. Hansetage statt. Hier stehen das Heilpädagogische
Zentrum, die Werkstatt und weitere soziale Einrichtungen im Mittelpunkt des
Interesses. Natürlich ist die Arbeit längst nicht mehr allein aus Spenden und
Kollekten zu finanzieren. Das ist auch dem Bezirk Pskow bewusst. Etwa 95% der
Kosten werden inzwischen vom russischen Staat getragen.
Zwischen
Russen und Deutschen in Pskow ist in dieser Zusammenarbeit Vertrauen gewachsen.
Gerade in politisch schwierigen Zeiten erweisen sich die
zivilgesellschaftlichen Kontakte als wertvolle Brücke zwischen den Völkern.
Darauf weist auch die deutsche Generalkonsulin Eltje Aderhold in St. Petersburg
hin:
O-Ton
Eltje Aderhold: Die Initiative Pskow geht ja auf eine Kooperation der Evangelischen
Kirche mit Partnern in Pskow in den 90er Jahren zurück. Und genau in den 90er
Jahren haben auch zahlreiche andere Partnerschaften der Zivilgesellschaft
begonnen. Es ist ganz wichtig, dass wir diese Partnerschaften jetzt auch
fortführen.
Autor:
Ein
Zeichen der Versöhnung wollten wir als rheinischen Christen setzen, als wir
1991 nach Pskow gekommen sind. Ein konkretes Zeichen, damit – wie der damalige rheinische
Präses Peter Beier sagt - „nicht Tod die Zukunft dieser Welt bestimmen soll,
sondern die Liebe des gekreuzigten Christus.“ Niemand hat damals geahnt, was
daraus entsteht: eine neue Perspektive für Menschen mit Behinderungen. In der
Arbeit an diesem Ziel sind aus Feinden der Vergangenheit Partner, aus Partnern
vielfach Freunde geworden.
Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Klaus Eberl von der Evangelischen Kirche.
Musik 4: David Garrett: Leningrad; CD: David Garrett, Unlimited, Track 1-3, 2018, LC 00309, Musik: Billy Joel, Interpret: David Garrett