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Kirche in WDR 5 | 10.07.2019 | 06:55 Uhr
Selbstvertrauen durch Erzählen
Guten Morgen!
Ich gehöre zur Generation der
sogenannten Nachkriegskinder. Uns hat man nach-gesagt, wir hätten ein Problem
gehabt mit den Vätern. Warum?
Weil sie
schwiegen. Sie schwiegen sich aus über all
das, was sie in den Jahren des zweiten Weltkriegs erleben mussten und worin sie
mitunter auch selbst verwickelt waren. Die Folge war, dass sie den Kindern ihre
Auffassungen vom Leben oft auf autoritäre Weise weiter-gaben, ohne persönlich
überzeugen zu können. Was wir in dieser Hinsicht gerne von Ihnen erfahren
hätten, nahmen sie oft mit ins Grab.
Umso wichtiger waren die
Ausnahmen. Und zu denen gehörte für mich Heinrich Böll.
Der Kölner Schriftsteller hätte vom Alter her
mein Vater sein können. Und er schwieg nicht. Böll hat erzählt. Er hat sogar
Geschichten erzählt, die er von seinem Großvater kannte. Und eine davon habe
ich im Schulunterricht kennen gelernt, als ich 15 war: „Die Waage der Baleks“.
Die Baleks waren eine reiche
Großgrundbesitzerfamilie, bei der die kleinen Leute der Umgebung in Brot und
Lohn standen. Sie galten als vornehm, wohlhabend und gebildet. Sie gaben in
allem den Ton an. Und sie waren außer dem Apotheker die einzigen, die eine
Waage besaßen. Allen anderen war der Besitz einer Waage bei Strafe
verboten.
Diese Waage der Baleks sollte in Bölls Erzählung zu einem prophetischen Symbol werden. In den umliegenden Wäldern gab es viele Kräuter und Pilze, welche von den Kindern gesammelt und an die Baleks verkauft wurden. Das Geld das sie dafür bekamen, richtete sich nach dem Gewicht, das die Waage anzeigte.
Bölls Großvater gehörte auch
zu den sammelnden Kindern. Er war ein Kind von 12 Jahren. Durch eine Kette von
Zufällen findet er heraus, dass die Waage der Baleks falsche Angaben machte. Heimlich
legte der Junge die Kieselsteine, die er stets in der Tasche hatte, auf diese
Waage und lässt die Steine dann vom Apotheker noch einmal wiegen. Und siehe da:
alle Sammler sind um ihren gerechten Lohn betrogen worden. Es versteht sich,
dass für dieses Kind eine Welt zusammenbrach.
Die Geschichte nimmt kein glückliches Ende, nachdem der zwölfjährige Junge das Ganze aufgedeckt hat. Aber in Bölls Erzählung wird er zur Symbolfigur einer einzigartigen kindlichen Tapferkeit. Der Junge bringt nicht nur die Kraft auf, dem Betrug auf den Grund zu gehen. Er hat auch den Mut, seine Entdeckung öffentlich zu machen. Er bringt es ans Licht, dass eine Waage, die für unzählige Menschen ein Garant der Gerechtigkeit ist, als Instrument des Betrugs entlarvt wird.
Heinrich Böll hat
diese Erzählung aus der Kindheit seines
Großvaters dem Vergessen und Verschweigen entrissen. Er hat die Sehnsucht nach
Gerechtigkeit und das Leiden am Unrecht davor bewahrt, in einem Grab zu
versinken. Er hat dem Selbstvertrauen verletzter Menschen in dieser Erzählung
ein bewegendes Denkmal gesetzt.
Was er erzählt hat, hat er für
uns erzählbar gemacht. Solange es Menschen gibt, die dafür sorgen, dass nicht
nur die Erfolgsgeschichten von Generation zu Generation weiter erzählt werden, sondern
auch die Leidensgeschichten und die Geschichten des Scheiterns, solange wird
der Faden zwischen den Generationen
nicht abreißen müssen. Heinrich Böll ist ein
gutes Beispiel dafür. Er war gegenwärtig im Protest gegen die Gefahren von Kernkraft
und Atomwaffen. Und er wäre auch heute dabei, wo eine Waage wie die der Baleks
mal wieder in Verruf gerät.
Es grüßt Sie Pfarrer Friedhelm Mensebach aus Köln