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Das Geistliche Wort | 07.07.2019 | 08:40 Uhr
Vertrauen in Europa stärken
Guten Morgen!
Lange nicht mehr war Europa so sehr in aller Munde wie in den vergangenen Monaten. Die Wahlen zum Europäischen Parlament, das Wahlergebnis und die Wahlbeteiligung haben viele beschäftigt. Anders als bei vergangenen Wahlen haben wesentlich mehr als früher ihre Stimme abgegeben. Das Ergebnis aus den 28 Ländern der Europäischen Union ist ein Spiegelbild der derzeitigen Lage in Europa: Es gibt viele, die für eine starke Europäische Union sind. Und: Die Zahl derer, die kritisch auf Europa schauen und andere Wege als bisher gehen wollen, wird größer als bisher gewohnt.
Für mich ist die große Wahlbeteiligung und die rege Diskussion um die Wahl ein Reifezeugnis für Europa, auch wenn es nicht wenige gibt, die Europa klein reden, eine Krise nach der anderen attestieren und sich besonders durch Schwarzmalerei hervortun.
Was macht Europa eigentlich aus? Lange nicht mehr ist so intensiv in der Öffentlichkeit über diese Frage gestritten und gerungen worden. Ich will ein paar Antworten versuchen:
Europa ist ein Friedensprojekt. Es begann nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und der totalen Zerstörung Deutschlands sowie vieler Regionen des Kontinents. Da war Aufbruch angesagt und Aufbau. Christlich motivierte Politiker wie Konrad Adenauer in Deutschland, Robert Schumann in Frankreich und Alcide De Gasperi in Italien nutzten die wachsenden wirtschaftlichen Beziehungen, um den Zusammenhalt jener neu zu begründen, zu stärken und dauerhaft wirksam werden zu lassen, die sich oft über Jahrhunderte bekämpft hatten. Die Geburtsstunde Europas nach dem Zweiten Weltkrieg hängt weit über die wirtschaftlichen Vorteile hinaus unmittelbar mit der Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden zusammen.
Aus der anfänglichen Wirtschaftsunion wurde dann mehr und mehr auch eine politische. Mit dem Fall der Mauer und der friedlichen Revolution in den früheren Ostblockstaaten Europas ergaben sich neue Chancen. Europa wurde erweitert auf mittlerweile 28 Mitgliedstaaten. Noch manche Länder des östlichen Europas warten heute auf die Aufnahme in die Europäische Union.
Nicht wenige nennen heute Europa auch ganz bewusst eine Wertegemeinschaft. Dabei begleitet Europa von Anfang an die Frage: Was ist und bleibt für Europa sinnstiftend?
Von Anfang an haben die Christen in den verschiedenen Kirchen diese Entwicklung zu einer Wertegemeinschaft unterstützt. Europa verdankt dem Christentum und den Kirchen viel. War es am Anfang eine Friedenssehnsucht und dann eine friedensichernde Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft, sehe ich heute Europa wesentlich auch als eine Wertegemeinschaft.
Diese Werte sind 2009 im sogenannten Vertrag von Lissabon von den europäischen Mitgliedsstaaten unmissverständlich formuliert worden: Die Achtung der Menschenwürde sowie die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte teilen alle Unterzeichner des Vertrages und finden ihren Ausdruck in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und in der festen Überzeugung von der Gleichheit von Frauen und Männern.[1]
Die EU steht für eine Wertegemeinschaft. Allerdings: Der Begriff „Wertegemeinschaft“ ist nie unwidersprochen geblieben. Sehen die einen die Wertegemeinschaft auf der Grundlage des christlichen Abendlandes überbewertet, gibt es auch andere Stimmen, die betonen, dass die kulturellen und religiösen Potenziale Europas größer sind, als viele annehmen. Denn zu den Quellen Europas gehören eben alle Traditionen, die mit den vielschichtig klingenden Namen von Jerusalem, Athen und Rom verbunden sind und an die Wurzeln der europäischen Kultur am Mittelmeer erinnern.
Was also meint heute der Begriff „Wertegemeinschaft“ für Europa, der sehr offen ist und auf den ersten Blick scheinbar Zusammenhangloses gleichermaßen erfasst, wie eben sittliche Qualitäten, moralische Haltungen, Tugenden, materielle Güter, aber auch Binnenmarkt und Freizügigkeit?
Europa steht heute für die Grundrechte und Menschenwürde aller Menschen. Diese Einsicht ist langsam gewachsen durch eine leidvolle Geschichte beständiger Kriege, von Religionskriegen und grausamen wie hemmungslosen Auseinandersetzungen von Völkern und Religionen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Und der Redlichkeit halber müssen wir Europäer uns eingestehen: Die eigentliche friedenstiftende Bindekraft der Werte hat die Völker und Menschen Europas nicht davor bewahrt, selbst zu Tätern wie Opfern zu werden, von verheerenden Religions- und anderen Kriegen, von religiösem Wahn, grausamster Barbarei, eklatantester Ungerechtigkeit und abscheulichsten ideologischen Katastrophen. Ich denke dabei besonders an die Gräuel des Nationalsozialismus, die von Deutschland ausgegangen sind.
Es war vor allem der große englische Premierminister und Staatsmann Winston Churchill, dessen Mut wesentlich dazu beigetragen hat, den Nationalsozialismus und die Barbarei der Naziideologie niederzuringen. Gut ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat er in einer beachtenswerten Rede für eine Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie plädiert: Europa soll eine Struktur gegeben werden, in welcher sie in Frieden, Sicherheit und Freiheit bestehen kann.[2] Die gemeinsame Geschichte des europäischen Kontinents, das einigende Band des christlichen Glaubens sowie der christlichen Ethik rufen gerade zu einer Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf, so die Überzeugung Churchills.
Am Anfang stand also eine Vision und zugleich viel Mut, nämlich Europa als Wertegemeinschaft neu erstehen zu lassen. Weit über eine bloße wirtschaftliche Gemeinschaft hinaus sollte eine Gesellschaftsordnung angestrebt werden, die den Menschen dient durch Friede, Sicherheit und Freiheit. Diese Gesellschaftsordnung sollte gegründet sein auf den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit. Und in allem getragen werden von der Achtung der Menschenrechte und der Überzeugung der gleichen Würde aller.
An die europäische Gesellschaftsordnung werden heute viele konkrete Fragen gestellt. Nicht zuletzt im Umgang mit den Herausforderungen der Jahre 2015/2016 und durch die Migrations- und Wanderungsbewegungen. Die zentrale Frage lautet dabei: Was wollen wir in Europa im Letzten gemeinsam erreichen?
Hier können gerade Christen und die Kirchen nach wie vor Wertvolles leisten. Von ihrem Glauben motiviert können sie für die unbedingte Würde aller Menschen einstehen, sie können bezeugen, dass der Frieden ein Werk der Gerechtigkeit ist und es um ein Recht für alle Menschen gehen muss. Aufgrund ihrer langen Religionsgeschichte wissen Christen, wie wichtig Institutionen sind, damit für alle Menschen Rechte gewährleistet sind und gewahrt bleiben als Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Weiterentwicklung des sozialen Fortschritts, von Wissenschaft und Technologie, aber auch der unbedingten Achtung des Privat- und Familienlebens. Das klingt alles sehr ideal und ist für viele eine Utopie. Aber ich bin davon überzeugt, dass auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes sich eine Wertegemeinschaft weiter ausbilden kann, bei denen alle in Europa gewinnen.
Europa kann eine Wertegemeinschaft sein, wenn auch manchmal nur als Not-, Zweck- oder Interessensgemeinschaft. Dabei können sogar Grenzerfahrungen des europäischen Zusammenhalts neues Wachstum provozieren. Ich meine das nicht rein ökonomisch. Sondern hier zeigt sich eine tiefe religiöse Wahrheit: Jedes Ende birgt einen neuen Anfang in sich. Aus dem Verlust des Alten entsteht der Gewinn des Neuen. Aus dem Tod erwächst Leben! Daher lohnt es sich, mitzubauen an einer Welt, die auch das Scheitern von Menschen kennt. Von Papst Franziskus ist dabei viel zu lernen. Er betont, von den Rändern, von der Peripherie, von den Grenzen her zu denken, zu planen und zu handeln. Normalerweise sind die Menschen es ja gewohnt, die Wirklichkeit von sich aus zu betrachten, sich in die Mitte zu stellen und von hier her alles zu bestimmen und Kontrolle auszuüben.
Wie wäre es dagegen, einmal die Perspektive zu wechseln, sich für die Ränder zu interessieren? Dafür braucht es eine echte Mitleidenschaft für die Menschen von heute. Für die Menschen, die zum Beispiel nach Europa kommen und mit denen wir schon zusammenleben. Von ihnen können wir viel lernen. Viele sind oft sehr kulturell geprägte, tiefe religiöse Menschen, die zeigen, was eines der tiefsten religiösen Motive wirklich bedeutet, nämlich Exodus, Auszug: sich nämlich mit einer Hoffnung aufzumachen, in Bewegung zu geraten, im Vertrauen auf Gott seinen Verheißungen zu folgen und Neues zu wagen.
So gesehen, zeigt sich am Umgang mit den Menschen, die nach Europa kommen, wie glaubwürdig Europa sein kann. Europa ist so lange glaubwürdig, wie es diese Menschen mit ihren Nöten und Sorgen ernst nimmt. Europa verstehe ich als eine Freundschaftserklärung an alle Menschen. Und diese Gesinnung bewährt sich nicht in Weltflüchtigkeit und Abschottung, sondern in der Tugend der Welttüchtigkeit. Und solche Welttüchtigkeit zeigt sich in einem Leben ohne Angst vor der Zukunft. Als Christ und Bischof stehe ich für ein Vertrauen in die Zukunft, weil ich auf dem Boden einer christlichen Wertegemeinschaft stehe, die Europa trägt. Und ich möchte dafür werben, dass viele Menschen mit mir dieses Vertrauen in die Zukunft leben.
Es braucht Menschen, die dieses Vertrauen schaffen, indem sie Führung und Verantwortung übernehmen in ihren Kommunen, in den Parlamenten, in Europa. Es geht um Frieden und Gerechtigkeit auf der Basis einer gemeinsamen Werteordnung – nicht mehr und nicht weniger.
Sich dafür einzusetzen, lohnt sich – immer.
In diesem Sinne grüßt Sie herzlich mit allen Segenswünschen zum Sonntag Ihr
+ Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen
[1] Vgl. Vertrag von Lissabon 2009, Art. 3. [2] Vgl. Anton Schaefer, die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Dornbirn: Europa Verlag 2001, S. 64 f.