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Auf Durch-Reise

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Das Geistliche Wort | 28.07.2019 | 08:40 Uhr

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Auf Durch-Reise

Autorin: Es ist Sommer. Ferienzeit. Reisezeit. Viele sind aufgebrochen, um sich woanders zu erholen und Neues zu entdecken.
Ganz oben auf der Beliebtheitsliste für Reisen steht bei den Deutschen derzeit Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch der Tourismus in NRW boomt - mit 51 Millionen Übernachtungen im letzten Jahr. So viele hat es in unserem Bundesland noch nie gegeben.

Guten Morgen! Ich grüße Sie aus Hattingen an der Ruhr. Der Stadt, in der ich nun seit 30 Jahren lebe. Aber auch ich verreise gerne.

Sprecher: „Ich habe Denken gelernt, weil ich Heimat verlassen und gefunden habe. Wenn man nur bei sich bleibt, wenn ich nur im Saarland geblieben wäre, hätte ich weniger denken können. Aufbrechen erweitert den Horizont. Man findet sich gerade in der Fremde.“ (1)

Autorin:...behauptet der inzwischen 85-jährige Theologe und Autor Fulbert Steffensky.
„Aufbrechen erweitert den Horizont. Man findet sich gerade in der Fremde.“
Ich bin in Wien gewesen in diesem Sommer. Dass ich mich neu gefunden habe, will ich nun wirklich nicht behaupten.
Aber manches hat mich beeindruckt: 1400 km Radwegenetz in dieser Stadt. Hunderte von Ampeln extra für Radfahrer. Eigene breite, gepflegte Spuren nur für Radfahrer. Hier wird nicht nur für Autos gebaut, hier sind andere, nachhaltigere Verkehrsmittel im Blick. Das ist offenkundig. Was alles möglich ist in einer europäischen Großstadt.
Mehr noch: Auf vielen öffentlichen Plätzen sind Sitzecken aus Steinen geschaffen worden. Für Menschengruppen. Kreisförmig angeordnet. Eine Einladung, sich dort miteinander hin zu setzen, zu erzählen, zu essen, zu spielen.
Abends ist auf diesen Plätzen jede Menge los. Manch einer schläft dort eine Runde gemütlich ausgestreckt nach der Arbeit. Aber es gibt auch Kinder, die zusammen Karten spielen oder Frauen, die dort ein Picknick zubereitet haben.

Was alles möglich ist, im Verkehr, in der Stadtplanung, bei der Gestaltung von öffentlichen Plätzen...ich bin überrascht, sogar etwas irritiert, ich bin nachdenklich geworden.
Wir Deutschen denken ja oft, wir sind auf den meisten Gebieten vorneweg. Nicht nur als führende Wirtschaftsmacht in Europa, sondern auch darüber hinaus...besonders innovativ, kreativ, modern und nachhaltig.
Aber ein paar Tage im Nachbarland reichen aus um festzustellen: Es geht viel mehr, es geht auch anders. Ich muss mein Bild, auch mein Selbstbild korrigieren. Mein Horizont erweitert sich.
Ja, aufzubrechen, zu reisen ist eine Chance. Es kann meinen Blick schärfen, mich sensibler machen.

Sprecher:

Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute. (2)

Autorin: Als Heinrich Heine 1844 diese Ballade „Deutschland. Ein Wintermärchen“ schreibt, hat er Deutschland längst verlassen. Er lebt schon zehn Jahre im Exil in Frankreich. Heine stammte zwar aus einer jüdischen Familie, war aber selbst zum Christentum konvertiert. Geholfen hat ihm das nur wenig. Er leidet in Deutschland unter dem erstarkenden Antisemitismus. Er wird beruflich ausgegrenzt und benachteiligt. Seine schriftstellerischen Werke unterliegen der Zensur - denn um die Meinungsfreiheit war es in jenen Jahren schlecht bestellt. Viele seiner Werke dürfen in Deutschland nicht erscheinen.
Heinrich Heine reist- im Gegensatz zu mir und den vielen Fernreisenden diesen Sommer- nicht freiwillig ins Ausland. Nicht zum Vergnügen, nicht zur Erholung oder um seinen Horizont zu erweitern. Er verlässt Deutschland gezwungenermaßen und mit Wehmut im Herzen - die er in seiner Ballade so wunderbar zum Ausdruck bringt.

Musik: Danny Boy, CD: Oceana, Track: 11, Musik: Larry Klein, Till Brönner, Interpret: Till Brönner, Label: Verve (00383), EAN: 602517082311

Autorin: Menschen sind mobil, schon immer sind sie gewandert, hin und hergezogen. In früheren Zeiten nicht immer freiwillig, oft mit Wehmut im Herzen. Man ist dorthin gezogen, wo es Arbeit gibt, ein Dach über dem Kopf, Wasser und Brot für die eigene Familie. Ohne Zuwanderung von Arbeitskräften im 18. und 19. Jahrhundert wäre zum Beispiel das Ruhrgebiet nie so groß und wirtschaftlich bedeutsam geworden.
Reisen zu können aus Vergnügen, weil Sommer ist und alle Ferien haben, reisen zu können, um seinen Horizont zu erweitern,
das ist erst durch einen gewissen Wohlstand möglich. Dass die Deutschen 2018 so viel gereist sind wie noch nie, zeigt auch, wie gut es vielen von uns im Vergleich zu anderen geht, wie privilegiert wir sind.

Sprecher: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir!“ (Heb 13,4)

Autorin: Dieser Satz steht im Neuen Testament. Ganz am Ende des sogenannten Hebräerbriefes.
Ich kenne den Verfasser oder die Verfasserin nicht, aber man vermutet, dass der Brief ungefähr 80 oder 90 Jahre nach Christi Geburt geschrieben worden ist.
Es geht in diesem Schreiben darum, Menschen Mut zu machen und sie zu stärken im Alltag. Denn die Anhänger Jesu werden damals verfolgt und ausgegrenzt.
Immer wieder werden Christen gefangen genommen. Sie müssen vorsichtig sein, wenn sie sich treffen, um zu beten und Gottesdienst zu feiern.
Die Botschaft des Hebräerbriefes ist klar: „Lasst Euch nicht vom Weg abbringen. Vieles ändert sich. Vieles ist unsicher. Aber Jesus Christus ist für Euch da, gestern, heute und morgen.
Verliert nicht den Mut. Seht doch, Jesus hat auch gelitten, draußen vor den Toren der Stadt.
Lasst uns das erinnern. Denn wir alle haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. ------

Was bedeutet dieser Satz für Christinnen und Christenheute?
Kennzeichnet das meinen Glauben, dass ich immer auf der Suche bin, Häuser und Städte verlasse, hinausziehe, suche und wandere?
Kann ich vielleicht nur eine gute Christin sein, wenn ich unterwegs bin, wenn ich weiterziehe, meine Stadt verlasse, wenn ich mich selbst als Mensch auf Wanderschaft verstehe?

Musik: Barcelona Nights, CD: Nouveau Flamenco, Track 03, Musik/Interpret: Ottmar Liebert, Label: Higher Octave (55442), EAN: 724384879327

Autorin: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ heißt es im Hebräerbrief, im Neuen Testament.
Aber ist denn nicht auch das andere wichtig? Eine bleibende Stadt?
Eine Heimat? Wissen, wo ich hingehöre? -----

Mit dem Wort Heimat tue ich mich schwer. Aber ein Zuhause, ja, das ist mir wichtig: Freunde, Familie, das Gefühl, sicher zu sein, Arbeit und Zukunft zu haben.

Das Wort Heimat ist in Deutschland leider kein neutrales Wort mehr.
Es wurde und wird benutzt, um Menschen einzuteilen in Kategorien und sie dann auszugrenzen.
Um zu sagen: Die Einen haben hier ihre Heimat, sie gehören hierher, die anderen aber nicht.
Heimat ist für mich ein Wort, mit dem zu viel Leid angerichtet wurde. An dem Blut klebt.
„Das hier ist unsere Heimat. Ihr seid anders, ihr gehört hier nicht hin.“

„Die Anderen“ - das können ganz viele sein. Damals als Heinrich Heine emigriert ist, sind es Juden und politisch aktive Zeitgenossen, die sich für ein einiges Deutschland, für Gedanken- und Meinungsfreiheit einsetzen.

Unter Adolf Hitler dann zusätzlich Sinti und Roma, Homosexuelle und Gegner der Nazi-Diktatur. In jüngster Zeit Asylbewerber, Südosteuropäer, Nordafrikaner oder Muslime und Geflüchtete ganz generell.
Der Heimatbegriff wird bis heute oft benutzt, um anderen die Zugehörigkeit zu verweigern.
Um eine Stadt, ein Land für mich, für uns Deutsche, zu reservieren.
Wie das Handtuch, das man im Urlaub am frühen Morgen auf dem Liegestuhl am Strand platziert, damit kein anderer sich dort niederlassen kann.

Aber auch für mich persönlich ist HEIMAT ein schwieriges Wort.

Ich bin am Rand von Bielefeld geboren, aber dort lebt niemand mehr, den ich kenne.
Die Häuser direkt neben unserem Elternhaus sind irgendwann vor Jahren abgerissen worden, neue Häuser entstanden. Der Schotterweg meiner Kindheit ist geteert, auf der Wiese vor unserem Haus stehen heute keine Kühe mehr. Ist das meine Heimat?
Ich habe keine Wehmut, wenn ich dorthin komme, auch kein Herzklopfen. Bielefeld ist in meinem Herzen, aber längst ist da noch vieles andere.
Ich bin weitergezogen. Mein Zuhause ist jetzt Hattingen an der Ruhr. Hier habe ich mich niedergelassen und bin froh, auf Menschen zu treffen, die mir, als „der Neuen“, freundlich die Hand gereicht haben. Aber ob ich im Ruhestand hier bleiben werde, weiß ich noch nicht.
Meine Familie und Freunde leben über Deutschland verteilt und darüber hinaus.
Heimat ist für mich etwas Bewegliches geworden, etwas, was sich ständig verändert und viele Facetten hat: Es gibt Musikstücke, die mir herrlich vertraut sind, die in mir heimatliche Gefühle wecken. Ein paar wenige Bücher gehören auch dazu, die Bibel zum Beispiel.
Ein Freundeskreis, der sich stetig entwickelt. Oder das Rauschen alter Bäume in schattigen Wäldern oder der Duft des Meeres, egal ob an der Nordsee oder am Mittelmeer.

Musik: Ate ao Verao, CD: Desfado, Track 03, Musik/Text: Marcia Santos, Interpretin: Ana Moura, Label: Universal (01846), EAN: 60153722858

Sprecher:

Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.(3)

Autorin: „Weggehen und doch sein wie ein Baum, als bliebe die Wurzel im Boden“ - so formuliert es die deutsch-jüdische Schriftstellerin Hilde Domin, die in der Nazizeit aus Deutschland fliehen musste.
Weggehen können und doch sein wie ein Baum - der Hebräerbrief im Neuen Testament kommt diesem Gedanken sehr nahe wenn er sagt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Als Mensch bin ich immer Reisende, Durchreisende, ich habe hier tatsächlich keine bleibende Stadt. Niemand von uns.
Spätestens mit dem Tod verlasse ich diese Welt.
Aber ich habe Christus. Er hat mir gezeigt, was ein gutes Leben ist.
Wie Menschenmiteinander umgehen können, wie sie füreinander sorgen und eintreten können. Gott ist und bleibt mein Freund, mein Wegbegleiter. Das hatte er schon Abraham versprochen. Das hat er mit Jesus bekräftigt. Das gilt.

Ich habe Christus, ich bin verwurzelt in Gott - so wie ein Baum mit seinen Wurzeln tief in die Erde hineinragt.
Ich weiß, dass ich eines Tages gehen muss. Mein Haus, meine Stadt, meinen Besitz, meine Lieben zurücklassen muss.
Das verändert schon heute den Blick: Ich darf DANKE sagen für mein Zuhause. Am besten 10x jeden Tag, aus vollem Herzen: Dass ich schon so lange in Sicherheit und Frieden hier lebe.

Aber meine Stadt oder unser Land - sie gehören nicht uns. Sie sind nicht reserviert für mich und meine Leute, für uns Deutsche oder Europäer. Wir können gehen oder andere können kommen. Ich brauche keine bleibende Stadt.
Denn ich bin Reisende, Durch-Reisende.

Verwurzelt in Gott.
Auf dem Weg mit Gott, auf dem Weg zu Gott.

Musik: Women Walking, CD: Nouveau Flamenco, Track 05, Musik/Interpret: Ottmar Liebert, Label: Higher Octave (55442), EAN: 724384879327


Zitate:

(1) https://www.jesus.de/3e-gottes-schoenheit/

(2) aus: Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. https://gutenberg.spiegel.de/buch/deutschland-ein-wintermarchen-383/2
(3) Wer es könnte. Gedichte. Hilde Domin. Aquarelle Andreas Felger. Frankfurt am Main 2006, 4. Auflage. Seite 49


Redaktion: Pfarrer Oliver Mahn





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