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Das Geistliche Wort | 10.02.2019 | 08:35 Uhr

Wer bin ich?


Einen schönen guten Morgen!

Die wohl existentiellste Frage, die ein Mensch sich stellen kann, lautet: „Wer bin ich?“ Sie ist eine Art Kurzformel für die Fragen: "Wodurch definiere ich mich? Und wo ist mein Platz im Leben?“

Eine erste Auskunft – zugegeben sehr formal – steht in meinem Personalausweis: Dorothee Haentjes-Holländer, geboren am 15.7.1963 in Köln, wohnhaft in Bonn, 1,64 Meter groß, grünbraune Augen.

Aber irgendwie reicht mir das nicht. Da muss ja noch mehr sein. Aber – was?

Wer bin ich?

Für mich kann ich sagen: Zu einem großen Teil finde ich eine Antwort auf diese Frage über meine Herkunft – also durch meine Familie und meine Vorfahren. Außerdem habe ich festgestellt: Ein wichtiger Teil meines Ichs ist meine Verwurzelung in der europäischen Kultur.

Daran, wie mir das bewusst geworden ist, kann ich mich sehr gut erinnern. Es kam so: Mein Onkel Werner stand im Alter von gut siebzig Jahren vor der Frage, ob er seinen Lebensabend vielleicht bei seinem Sohn verbringen wolle. Allerdings nicht hier in Deutschland, sondern in Australien. Er war Komponist und dachte darüber auf seine Weise nach: er komponierte ein Musikstück, ein Saxophonquartett. Es endet mit einer Variation auf ein Klavierstück des großen Musikers Franz Schubert. Dieses Stück hat mein Onkel schon in seiner Jugend oft gemeinsam mit seiner Mutter auf dem Flügel gespielt, vierhändig. Als ich mit meinem Onkel zusammen seine Saxophon-Variation auf dieses Schubert-Stück hörte, konnte ich spüren, wie er nicht nur in seiner eigenen Musik aufging, sondern ebenso in der Erinnerung an das Originalstück. Da wurde mir klar, wodurch er sich definierte, wo er seine innere Geborgenheit fand: Sein Leben war eng verknüpft mit dieser Musik; die hatte ihn geprägt, das war seine Welt. Mit einem Mal hatte ich viel mehr über ihn erfahren, als er mir mit Worten jemals hätte sagen können.

Mein Onkel ist damals nicht nach Australien gegangen, sondern er ist zuhause in Köln geblieben. Bei seinen kulturellen Wurzeln.

Für meinen Onkel war sein Beruf Ausdruck seiner Berufung: er war Künstler, Komponist.

Berufung und Beruf – schon das Begriffspaar zeigt, wie eng beides zusammengehört. Heutzutage ist allerdings nur noch selten vom „Beruf“ die Rede. Eher geht man zur Arbeit, zum Job oder ins Büro.

Aber vom „Beruf“ als „Berufung“ zu sprechen: ist das vielleicht nur noch etwas für Künstler oder „Lebenskünstler“?

Was das heißen kann: Beruf als Berufung zu verstehen, das habe ich tatsächlich durch eine Künstlerin erfahren. Als ich etwa 15 Jahre alt war, hat meine Mutter mir ein Buch über Käthe Kollwitz geschenkt; über die große Graphikerin und Bildhauerin. Der Titel des Buchs war ein leicht abgewandeltes Zitat der Künstlerin: „Eine Gabe ist eine Aufgabe.“ Dieser Satz hat mich tief beeindruckt – und überrascht. Er klang für mich nach einem Auftrag: „Mach was aus dem, was du kannst!“

„Mach was aus dem, was du kannst!“ Wenn es um Berufungen geht, kann man auch in der Bibel fündig werden. In den Gottesdiensten der katholischen Kirche wird heute zum Beispiel folgende Begebenheit erzählt: Viele Menschen sind an den See Genezareth gekommen, um Jesus zu hören. Weil die Menge aber so groß ist, können die Leute ihn kaum verstehen. Deshalb lässt Jesus sich in einem Boot etwas vom Ufer wegrudern und beginnt aus dem Boot heraus zu predigen. Das Boot gehört einem Fischer: Simon Petrus. Der hatte schon die ganze Nacht über gefischt und nichts gefangen.

Nachdem Jesus zu Ende gesprochen hat, fordert er Petrus auf, noch mal mit dem Boot hinauszufahren und die Netze auszulegen. Und tatsächlich kommt Petrus nun mit vollen Netzen zurück. Worauf Jesus zu ihm sagt: „Von nun an wirst du Menschen fangen.“

Jesus fragt nicht: „Fühlst du dich berufen?“ Sondern er stellt einfach fest: „Du wirst!“

Für mich ist das eine Schlüsselszene für die Frage der Verbindung von Beruf und Berufung. Petrus ist kein Künstler, er ist Handwerker. Aber er beherrscht sein Handwerk. Das fängt mit dem Rudern an: Das Rudern ist die Voraussetzung für Petrus, mit Jesus in Kontakt zu kommen, denn Jesus braucht jemand, der ihn vom Ufer wegfährt. Dies wiederum ist die Bedingung dafür, dass Jesus zu den Menschen sprechen kann; Petrus ermöglicht also den Menschen den Kontakt mit Jesus.

Und seine zweite berufliche Qualifikation kommt hinzu: Das volle Netz, das er als Fischer an Land zieht, ist ein Bild für das, was er ab nun tun wird: Menschen sammeln, zusammenbringen, zu Jesus führen.

Mit anderen Worten: Die Professionalität des Petrus ist seine Gabe, die ihm zur neuen Aufgabe wird. Sein Beruf wird zur „Berufung“.


Im Beruf eine Berufung sehen, in der Begabung eine Lebensaufgabe: Das ist wohl der Glücksfall, bei dem sich Arbeit und Spiritualität verbinden können.

Denn es gibt doch so viele Jobs, die eine Identifikation zwischen dem Menschen und seiner Arbeit kaum möglich machen: Eintönige Tätigkeiten am Fließband zum Beispiel, oder gesundheitsschädliche oder ausbeuterische – vor allem in der sogenannten "Dritten Welt". Da fällt es schwer, in der Arbeit etwas "Höheres" zu sehen, etwas, das den Menschen innerlich befriedigt.

Bleibt es also dabei? Sind Beruf und Berufung und die Verbindung von Arbeit und Spiritualität am Ende eben doch nur etwas für Künstler oder Menschen wie Petrus?

Ich denke: Nein. Es gibt sehr viele Berufe, die zur Berufung werden können. Ich muss es nur für mich entdecken. Die Redewendung: „Etwas mit Leib und Seele tun“ gibt dazu einen Hinweis. In ihr schwingt mit, dass beim „Tun“ nicht nur etwas mechanisch ausgeführt wird, sondern mehr dabei ist: mein Innerstes. Damit ich meinen Beruf als Berufung verstehen kann, bedarf es einer Haltung, die danach sucht, was in meiner Tätigkeit über das rein Diesseitige hinausweist. Eine Dimension dabei ist der Nutzen für die Gesellschaft. Ist das, was ich tue, gut für andere?

Ob ich Brötchen backe oder Zeitungen austrage. In einer Gemeinschaft ist man füreinander da. Gemeinschaft funktioniert nur durch das einander Zuarbeiten. In diesem Für- und Miteinander liegt für mich der "höhere Sinn" und die Spiritualität der Arbeit.

Was mache ich, wenn die gängigen Vorstellungen von Identität für mich nicht mehr greifbar sind? Wie definiere ich mich, wenn ich zum Beispiel einer Arbeit nachgehen muss, die mich nicht erfüllt? Oder wenn ich durch Krankheit oder Alter oder noch anderes an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder sogar komplett von ihr ausgeschlossen bin?

Sehr beeindruckend finde ich da die Haltung des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer. Er war in der Situation, vollständig von der Gesellschaft abgeschlossen zu sein, nämlich während seiner Gefangenschaft durch die Nationalsozialisten, im Juni 1944. Damals hat er das Prosagedicht „Wer bin ich?“ verfasst. Darin geht es um die verschiedenen Rollen, wie ein Mensch von anderen wahrgenommen wird; in ganz unterschiedlichen Facetten nämlich. Und es zeigt sich, dass Bonhoeffer selbst sich in keiner dieser Rollen wiederfinden und erkennen kann. Bonhoeffer ist sich selbst entfremdet. „Wer bin ich?“

Weder sein Beruf noch seine Begabungen und seine Herkunft bieten ihm jetzt noch eine Antwort auf diese Frage an. Deswegen lässt Bonhoeffer alle diese Kriterien seiner Wesensbestimmung fallen. Und findet schließlich eine Antwort, die ihn nicht einmal mehr nach seinem Platz im Leben suchen lässt – und ihn dennoch vollkommen befriedigt:

„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

Mit diesem Satz verzichtet Dietrich Bonhoeffer darauf, selbst über seine Identität Auskunft zu geben. Stattdessen findet er in seinem Glauben das, was er mit weltlichen Kriterien nicht beschreiben kann. Sein einziger Bezugspunkt ist nur mehr Gott.

Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich nicht am Rande der Gesellschaft stehe oder gar von ihr abgeschottet bin. Und es ist mir sogar vergönnt, in meinem Beruf meine Begabungen leben zu können als Autorin und Übersetzerin. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Aber trotz dieser Bestätigung von außen ist auch für mich mein Glaube im Lauf meines Lebens ein wichtiger Bezugspunkt geworden und ein zunehmend relevanter Teil meiner Identität.

Wer also bin ich?

So vieles mag es geben, das mich charakterisiert. Über all dem aber wird – so hoffe ich – auch für mich immer stehen:

"Dein bin ich, o Gott!"

Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen Dorothee Haentjes-Holländer aus Bonn.

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