Beiträge auf: wdr5
Kirche in WDR 5 | 26.06.2020 | 06:55 Uhr
Den Alltag heiligen
Schon eine Weile her, anderthalb Jahre vielleicht. Ich begleite meinen Vater ins Krankenhaus. Lungenklinik in Hemer. Es geht ihm nicht gut. Er hat Schmerzen. Und während wir auf den Arzt warten, sagt er irgendwann, dass er sich hinlegen muss. Sitzen geht nicht mehr. Glücklicherweise steht da eine Liege im Raum. Und das Zimmer lässt sich auch ein wenig abdunkeln. Kurze Zeit später kommt der Arzt dann. Ein „Dr. Lehmann“, wie ich dem kleinen Schild an seiner Brust entnehmen kann. Ein junger, sympathischer Kerl – doch offensichtlich unter Druck. Nicht unfreundlich. Überhaupt nicht. Aber ganz erkennbar sitzt ihm der Terminkalender im Nacken. Und obwohl es erst früher Vormittag ist, möchte ich gar nicht wissen, der wievielte Patient mein Vater heute schon ist. Das wievielte Gespräch dies hier heute für diesen Arzt sein wird. Und das wievielte Mal er sich eine Krankengeschichte mit ganz sicher viel zu vielen Details anhören muss …
Mein Vater jedenfalls hat mitbekommen, dass da jemand mit weißem Kittel steht. Er richtet sich langsam auf. Und als ich ihn ansehe, wie er die Augen geschlossen hält, die Lippen zusammenpresst, da habe ich eine vage Vorstellung davon, was für Schmerzen er haben muss. Mir ist klar, wie anstrengend der Weg ins Behandlungszimmer für ihn werden wird. Und Schuhe anziehen – das wird er allein kaum schaffen. Ich hocke mich also hin, ziehe die Schuhe heran und greife mir das erste Bein meines Vaters. Plötzlich bemerke ich rechts von mir eine Bewegung. Etwas irritiert drehe ich den Kopf zur Seite und sehe, wie dieser Dr. Lehmann neben mir kniet und meinem Vater den anderen Schuh anzieht. Ohne ein Wort zu sagen. Und als er fertig ist, er ganz offensichtlich auch bemerkt hat, dass es keine gute Idee ist, meinen Vater jetzt dazu zu nötigen, irgendeinen anderen Raum aufzusuchen, zieht er einen Stuhl herbei und hört sich geduldig an, was seinem Patienten gerade so zu schaffen macht.
Warum erzähle ich Ihnen das? Weil ich mich manchmal frage, wie ich mein Christsein eigentlich im Alltag leben kann. Wie ich es schaffen kann, meinen Alltag zu heiligen – ihn also so zu gestalten, dass er dem lieben Gott wirklich gefällt. Ich gebe zu: Manchmal bleibe ich da ratlos. Weil ich eben keine rechte Vorstellung davon entwickeln kann, wie in meinem Büro die Bearbeitung einer Akte oder eines Vorgangs besonders christlich geschehen kann. Und an anderen Tagen stehe ich vor dem Problem, dass mir mein Christ-Sein zwar eine Linie zeigt – aber dann sind da Regeln und Gesetze und Vorgaben und Zwänge, die mir etwas anderes diktieren.
Der junge Dr. Lehmann in Hemer wird sich wahrscheinlich gar keine großen Gedanken darüber gemacht haben, wie er seinen Alltag heiligen kann. Er ist einfach für einen kurzen Moment aus seiner Routine ausgestiegen, hat Status, Rolle, Aufgabe für einen Augenblick zur Seite geschoben und etwas zwar vielleicht Naheliegendes, aber eben keinesfalls Selbstverständliches, etwas zutiefst Menschliches und elementar Christliches getan: Sich hingekniet und einem Fremden den Schuh angezogen. Solch eine Größe und Freiheit haben zu können, ab und an zumindest – das wünsche ich mir. Und wenn das schon nicht geht, dann hoffe ich doch, immer wieder solchen Menschen zu begegnen. Die mir mit ihrem Tun Mut zusprechen und Inspiration geben. Dass auch Sie heute solche Begegnungen haben - das wünsche ich Ihnen.
Ihr Claudius Rosenthal aus Wenden