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Das Geistliche Wort | 17.05.2020 | 08:40 Uhr
Die gewendete EVA
Guten Morgen!
Darf ich Sie zu einem Besuch einladen? Ich weiß: Corona, Kontaktverbote, Füße still halten. Seit zwei Monaten sind sie für uns schon fast Gewohnheit geworden, die vielen Einschränkungen und Beeinträchtigungen des „normalen“ Lebens. Aber – ehrlich gesagt: An diesen Verzicht kann ich mich nicht gewöhnen! Kein Besuchen und Besuchtwerden! Mir fehlen die Nähe und Wärme, die herzliche Begegnung und lebendigen Gespräche: mit Freunden, Verwandten, Bekannten! Besonders vermissen meine Frau und ich unsere Enkelkinder: In den Arm nehmen, feste drücken? Keine Chance.
Deswegen – oder trotzdem: Die Einladung zu einem Besuch! Keine Angst, es kann nichts passieren. Phantasiereisen bergen keine Ansteckungsgefahr. Ich möchte Sie einladen, mit mir den Bischof von Essen zu besuchen. Einverstanden? Dann treffen wir uns am besten auf dem Burgplatz in Essen.
Kurze Musik I
Da stehen wir schon vor dem Bischofshaus. Burgplatz 2, Essen-Mitte. Einmal klingeln. – Frau Waszynski, die Sekretärin, öffnet und begrüßt uns freundlich. Dann führt sie uns ins Wartezimmer: „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz. Der Bischof kommt gleich.“ Bevor wir die kleine Sitzgruppe ansteuern, bleibt der Blick an der linken Seitenwand hängen: „Oh, ein Engel zur Begrüßung! Das ist aber einladend“. Ja, so ist es auch gemeint.
Als vor gut 10 Jahren Bischof Overbeck nach Essen kam, fand er sein Bischofshaus vollkommen leer vor. Sein Vorgänger hat ihm keine Altlasten hinterlassen. Nachdem er sich mit dem Notwendigsten eingerichtet hatte, fragte er mich als seinen zuständigen Kunstreferenten des Bistums: „Sagen Sie mal, Herr Fendrich, es ist alles noch ein bisschen kahl hier. Haben Sie nicht ein Depot? Damit wir hier so ein paar künstlerische Akzente setzen können?“
Viel hatte da das arme, kleine Bistum Essen seinem neuen Bischof nicht zu bieten. Aber ein paar Schätze gab es schon. Eben auch diesen Engel. Das Bild ist nur ein Fragment, ein Flügel eines größeren Altares aus dem späten Mittelalter.
Der Bischof und ich hatten zunächst vorgehabt, diesen Engel tatsächlich die Besucher des Bischofshauses begrüßen zu lassen. Die ersten Monate hing er in der kleinen Eingangshalle. Dabei ist er hier im Wartezimmer viel besser aufgehoben, wo man ihn in Ruhe anschauen kann.
Musik II
Ein Besuch führt Sie liebe Hörerinnen und Hörer und mich in das Haus des Bischofs von Essen. Und so stehen wir eine Weile vor diesem „Begrüßungsengel“ im Wartezimmer des Essener Bischofshauses, betrachten sein etwas bleiches Gesicht mit dem umso auffälligeren roten Mund und seine segnende und sprechende rechte Hand. In der Linken trägt er den Botenstab. Es ist ein Zeichen: Dieser Engel ist in offizieller Mission unterwegs, er hat Wichtiges zu sagen.
Ganz besonders fallen der wehende Mandel und die wallenden goldblonden Locken auf. „Ganz schön stürmisch!“ „Der hatte es wohl eilig!“ „Ja, er hatte schließlich eine frohe Botschaft zu verkünden“. Bei diesem Stichwort dämmert doch etwas: „Ach so! Dann war auf dem anderen Flügel bestimmt Maria dargestellt. Wie schade, dass sie mit dem Flügel verloren gegangen ist.“ Ich kann mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen: „Aber vielleicht ist es ja auch ein Segen…“
Kurze Musik III
Endlich haben wir bei unserem Besuch im
Bischofshaus im Wartezimmer Platz genommen. Aber bevor sich erwartungsvolles
Schweigen ausbreiten kann, fällt der Blick auf die Eingangswand. Da hängt auch
ein Bild. Aber das ist unverkennbar modern! Und das freut mich richtig, bis
heute, denn das war von vornherein die Idee. Aus der Not eine Tugend zu machen
und aus Verlust Gewinn. „Wie wäre es“, habe ich dem Bischof vor 10 Jahren
vorgeschlagen, „wenn Sie eine Künstlerin oder einen Künstler von heute bitten,
eine Ergänzung zu dem alten Engelbild zu schaffen? Nicht ein Ersatz für den
verlorenen Flügel im alten Stil, sondern eine eigenständige künstlerische
Konzeption, die aber einen Dialog eröffnet zwischen „alter“ und „neuer“ Kunst,
eine „Antwort“ auf das „Wort“, auf die Botschaft, die der Engel zu sagen hat?“
Diesen Vorschlag hat der Bischof sofort aufgegriffen und den Künstler Johann
Hendrix aus Duisburg-Rheinhausen gefragt, ob er eine Idee entwickeln könne. Und
der konnte! Sehr schnell sogar. Noch im selben Jahr wurde das Kunstwerk fertig.
Man kann die Jahreszahl in römischen Ziffern auf dem Bild unten erkennen: 2010.
Und jetzt geht es darum, das Kunstwerk etwas genauer unter die Lupe zu nehmen: Eigentlich sind es zwei Bilder, die aber so gehängt sind, dass wir sie als Einheit wahrnehmen. Also ein sogenanntes „Diptychon“, ein „Zwei-Teiler“. Rechts eine hochrechteckige Leinwand, auf der vollkommen gleichmäßig ein Violettton aufgetragen ist. Eine monochrome Fläche. Nichts als Farbe. Die linke Leinwand, mit einem kleinen Abstand gehängt, ist genauso hoch – es sind 90 Zentimeter – aber deutlich breiter. Und da gibt es nun was zu erkennen: Ein schönes junges Frauengesicht füllt die ganze Bildfläche aus. Deutlich überlebensgroß erscheint sie – und auf eine faszinierende Weise verwandelt. Denn Johann Hendrix, der Künstler, malt nicht einfach realistisch, sondern er reduziert die sichtbare Wirklichkeit auf große und kleinere Farbflächen, geometrisch gesprochen beherrschen senkrechte und waagerechte Linien das Bild. So entsteht eine sehr strenge Schönheit, die gut zu dem ernsten Ausdruck des Gesichtes passt. Die Augenpartie ist durch einen hellen Lichtstreifen betont. Eine entschiedene Wendung des Kopfes, ein aufmerksamer, wacher Blick. Und jetzt wird klar: „Die Frau guckt zu dem Engel rüber! Das ist Maria!“
Musik IV
Ist die junge Frau Maria? Natürlich berechtigt
das Arrangement im Wartezimmer des Bischofs dazu, sie in die biblische Erzählung
einzuordnen, die Raffinesse, die künstlerische Phantasie zu bewundern im
Zusammenspiel von alter und neuer Kunst. So wird die zentrale Geschichte von
der Verkündigung, von der Menschwerdung Gottes im Menschen Maria, aktuell und
lebendig. Aber gerade deswegen finde ich es wichtig, dass die junge Frau auf
dem Bild zunächst mal gar nicht nach Maria aussieht, wie wir sie aus der
Bildtradition kennen: kein Mantelkopftuch, keine züchtig oder demütig
niedergeschlagenen Augen, keine Bibel auf dem Pult und kein Gebetbuch in der
Hand. Einfach nur ein Mensch, ein junger Mensch, eine schöne junge Frau!
Bei längerer Betrachtung fällt vielleicht auf: Irgendwie kommt einem das Gesicht doch bekannt vor! Ja, das kann gut sein. Das Gesicht kommt in einem der berühmtesten Kunstwerke der Welt vor. Leider steht es da nicht so im Mittelpunkt und wird häufig übersehen. Und ich finde es große Klasse, dass der Künstler, Johann Hendrix die Frau aus dieser Nebenrolle herausholt und hier ins Zentrum stellt.
Die dargestellte Frau ist ein Detail aus der Erschaffung Adams, von Michelangelo, aus der Sixtinischen Kapelle. Da erinnern sich die meisten nur an den Schöpfergott und Adam und das berühmte Hand-Spiel, das sich zwischen ihnen abspielt. Vielleicht schimpfen sie auch darüber, dass auf den ersten Blick die Erschaffung des Menschen als die Erschaffung des Mannes dargestellt wird und fragen: Wo ist die Frau? Aber sie ist schon da. Und hat gar keinen schlechten Platz. Unter dem linken Arm des Schöpfergottes blickt sie hervor und schaut zu Adam herüber.
Kurz und gut: Johann Hendrix hat aus Michelangelos Eva eine Maria gemacht. Für sein Bild im Wartezimmer des Bischofs musste er aber noch eine wichtige Veränderung vornehmen: Damit seine „Eva-Maria“ zu dem alten Engelbild herüberschaut, musste er Michelangelos Eva spiegelverkehrt malen. Seine Maria ist also eine gewendete Eva. Und damit setzt der Künstler seinem ohnehin sehr klugen und anregungsreichen Bild noch ein Sahnehäubchen auf. Ein uraltes theologisches Wortspiel klingt hier an: Wenn wir die Buchstaben EVA umkehren, wird daraus das Grußwort des Engels: AVE. Sei gegrüßt – Maria!
Musik V
Angesichts der geistreichen Kombination der
alten mit der neuen Kunst im Wartezimmer des Bischofs von Essen stellt sich
noch die Frage: „Hat dieses Kunstwerk denn auch einen Titel?“ Ja, hat es. Und
ich finde: auch dieser Titel ist nochmal ein ganz kluger und witziger Einfall.
Johann Hendrix hat eine ganze Weile in Rom zugebracht und spricht daher gut
italienisch wie der Bischof von Essen auch. Vielleicht konnten sich die beiden deswegen
gut auf diesen Titel verständigen. Das Bild heißt: „Sala d’attesa“. Wörtlich
übersetzt heißt das: „Raum der Erwartung“ und passt gut zu diesem ganz
besonderen Bild einer Eva-Maria, die Gottes Wort im Engelswort hört, sich
umwendet, antwortet und so zum „Raum der Erwartung“ eines neuen Anfangs wird.
Aber eigentlich ist „Sala d’attesa“ nur der italienische Begriff für
„Wartezimmer“. Ganz nüchtern – und ganz treffend.
Aber die wörtliche Übersetzung „Raum der Erwartung“ ist natürlich viel poetischer. Und sie führt mich zurück in die Gegenwart:
In einem „Raum der Erwartung“ befinden wir uns in diesem Mai 2020 auch. Mit vielen Ungewissheiten und Fragen: Von „wie lange noch?“ bis „was kommt dann?“ Von der Freude über die ersten Lockerungen bis zu den schlimmsten Befürchtungen: „Wird das gut gehen?“ Mich bewegt auch die Frage: Wird es eine Besinnung geben, eine Wendung, einen neuen Anfang? Beantworten kann ich sie nicht. Aber zumindest über das nachdenken, was mein Anteil ist.
Aus Essen grüßt sie Herbert Fendrich
Musik VI