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Das Geistliche Wort | 21.03.2021 | 08:40 Uhr
Geht doch, nur anders
Guten Morgen!
Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern passiert: Ich saß auf dem Fahrrad und fuhr zurück vom Büro nach Hause. In der Jackentasche rappelte mein Handy. Ach, da kann ich auch gleich noch drangehen, wenn ich zuhause bin, dachte ich. Aber immer wieder neu setzte das Rappeln ein. Also habe ich angehalten. Meine Frau war dran und sagte, komm mal schnell zum Spielplatz, unsere Tochter ist von der Schaukel gefallen und kann nicht mehr aufstehen. Sofort trat ich in die Pedale und als ich außer Atem am Spielplatz ankam, war auch schon der Krankenwagen da. Ich weiß nicht, wer mehr erschrocken war, ich oder meine Tochter. Sie lag unglücklich und ganz blass auf der Trage und wurde ins Krankenhaus gebracht. Später zeigte das Röntgenbild, was passiert war: Schien- und Wadenbein waren in der Nähe des linken Fußes glatt durchgebrochen, was man so von außen gar nicht sehen konnte. Aber ich muss schon sagen: meine Tochter war da echt tapfer.
Wie der Unfall meiner Tochter, ist mir das Röntgenbild in Erinnerung geblieben. Hier sieht man, was sonst verborgen ist. Für mich hat so ein Röntgenbild auch etwas Gespenstisches, allein das altertümliche Schwarz-Weiß der Aufnahme: weiße Knochen auf schwarzem Grund – wie ein Skeletausschnitt. Gewebe, Muskulatur und Sehnen sind nur als eine Art Schleier zu sehen. Ein Bild, das mir immer noch unter die Haut geht.
Und was auf dem Röntgenbild vielleicht nur der Fachmann sofort erkennt, dass nämlich hier etwas gebrochen ist, das hat weitreichende Konsequenzen: Von einer Sekunde auf die nächste kann ein Mensch seinen Fuß nicht mehr benutzen, er kann nicht mehr stehen, er kann nicht mehr gehen. So war das auch bei meiner Tochter. Auch wenn sie damals sofort operiert wurde, nach ihrem Krankenhausaufenthalt war sie über Wochen angewiesen auf Hilfe, auf Halt und Unterstützung bei ganz vielen alltäglichen Dingen. Ich kann ihnen sagen: Das war auch für mich nicht ganz einfach, denn wie Jahre zuvor als Kleinkind habe ich sie huckepack die Treppe in ihr Zimmer hoch getragen. Das ging alles – aber eben nur anders.
Mir ist da noch einmal bewusst geworden, wie wenig selbstverständlich es ist Selb-ständig zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes: Wir Menschen werden geboren in völliger Abhängigkeit, wir lernen als Kleinkinder aufrecht zu gehen, erst an der Hand von Erwachsenen und dann alleine, bis wir unsere eigenen Lebenswege gehen. Und wenn wir alt und gebrechlich sind, dann hoffen wir auf Wegbegleitung, da, wo wir nicht mehr selber einen Fuß vor den anderen setzen können.
Und mir wurde klar: Was können wir nicht alles machen mit unseren Füßen, wenn sie gesund sind? Unsere Füße tragen uns. Sie geben festen Stand. Wir können mit ihnen ausschreiten oder protestierend stampfen. Beim Spielen und Tanzen drücken wir mit ihnen unsere Freude aus und beim Wandern tragen sie uns in die Weite.
Sehr schön hat das einmal ein Psalmvers ausgedrückt (Ps 31,9): Du stellst meine Füße in weiten Raum.
Dieser Vers ist eingebettet in das Klage- und Dank-Lied eines Beters, einer Beterin, die sich umgeben sieht von Feinden, die sie verfolgen. Sie fühlt, wie der Boden unter ihren Füßen weggezogen wird und die ganze Welt ins Wanken gerät. Dann, ein Aufatmen: Du stellst meine Füße in weiten Raum.
Der Psalm ist vor rund 2500 Jahren entstanden, in der Zeit des babylonischen Exils; in ihm werden Erfahrungen von Krankheit, Einsamkeit, Unterdrückung und Verzweiflung verarbeitet. Der Psalm ist eine Art Röntgenbild der Lebenssituation der Menschen damals: Menschen, die Halt, Stütze und Orientierung suchen. Der Psalm erzählt aber auch, dass sie das bei Gott gefunden haben: Aus der Enge der Angst blicken sie hinaus ins Weite und schöpfen Kraft für einen Neubeginn und werden aufgerichtet.
Aufgerichtet zu werden, ja auf die Füße gestellt zu werden, das ist auch im übertragenen Sinn von Bedeutung: Der Fuß als Metapher lässt mich an Aufbruch denken, an Bewegung und Wandel. Das Bild vom weiten Raum – von dem der Psalm spricht – meint einen Horizont, in den ich ausschreiten darf. Mehr noch: Das Bild lädt ein, auf- und durchzuatmen, es ermutigt zu Visionen. Und mit dem aufrechten Stehen ist auch eine innere Haltung angedeutet, aufrichtig zu sein: Die Menschen, die Gott in ihrem Leben als gegenwärtig erfahren haben, bezeugen in dem Psalm, dass sie Situationen durchstehen konnten, die ihnen hoffnungslos erschienen, dass sie treu ihren Weg gehen konnten – oft anders, als sie es sich dachten.
Im Buch des Propheten Ezechiel habe ich einen anderen Text gefunden, der diesen Aspekt vom aufrechten Stehen behandelt. Da heißt es (Ez 2,1f):
„Gott sagte zu mir: Menschensohn, stell dich auf deine Füße; ich will mit dir reden. Da kam Geist in mich, als er zu mir redete, und er stellte mich auf meine Füße. Und ich hörte den, der mit mir redete.“
Der Gott der Bibel lädt Menschen ein, auf den Füßen zu stehen, um zu hören. Nicht irgendetwas, sondern die Stimme Gottes. Für mich ist das eine innere Stimme, die mich anrührt. Ich muss ihr nur weiten Raum geben. So richtet Gott auf. So will er den aufrechten Menschen, als sein Gegenüber, als Partnerin und Partner auf Augenhöhe. Erst so kann Leben doch gelingen auch zwischen den Menschen: aufrecht und auf Augenhöhe. Dazu lädt Gott jede und jeden ein: steh auf, stell dich auf deine Füße und setze dich in Bewegung dem Nächsten entgegen.
Ich komme noch einmal zurück zum Röntgenbild, das ja tiefer geht als ich mit meinen Augen sehen kann. In diesen Wochen vor Ostern ist mir das Röntgenbild eines gebrochenen Fußes wieder begegnet als sogenanntes Fasten- oder Hungertuch, das jetzt in vielen Kirchen hängt. Die Hilfswerke Misereor und Brot für die Welt laden damit ein, genauer hinzuschauen, wo in dieser Welt Not und Unrecht herrschen.
Hintergrund des gebrochenen Fußes ist folgender: Ein Demonstrant in Chile, wird absichtlich schwer verletzt, weil er sich einsetzt für soziale Gerechtigkeit.
Sein Fuß wird gebrochen, damit er nicht mehr aufstehen kann, sich nicht mehr erheben kann, geschweige denn gehen kann. Übertragen heißt das: Hier wird ein Mensch seiner Würde beraubt. Er wird unterdrückt und daran gehindert aufzustehen und sich zu bewegen. Für mich wird das Bild vom gebrochenen Fuß zu einem Symbol, das nach Heilung und Trost fragt, genauso wie nach Würde und Gerechtigkeit.
Du stellst meine Füße in weiten Raum. – Das ist das Gegenbild zu der Erfahrung von Ohnmacht, Gewalt und Ungerechtigkeit des gebrochenen Fußes. Wie ist es, wenn Menschen aufstehen und auftreten, ins Weite gehen, auf die Straße gehen: in Weißrussland und Myanmar, um für ihre Rechte einzutreten? Dann wird vieles anders. Welche Kraft steckt in den Füßen all derer, die täglich in den Krankenhäusern und Pflegeheimen unterwegs sind, um Menschen wieder auf die Beine zu helfen? Dann wird vieles anders. Was bewirkt jeder Schritt, den ich im Alltag mache, auf andere zu, für andere? Dann wird vieles anders. Und wie dankbar muss ich eigentlich sein, für die vielen Füße derjenigen, die sich für mich auf den Weg machen? Auch das macht vieles anders.
Wenn ich mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehe, kann ich meinen Blick ausrichten auf die Weite, Vielfalt und Schönheit dieser Welt, aber auch auf die Herausforderungen, denen ich mich gemeinsam mit vielen anderen stellen kann.
Jede und jeder von uns hinterlässt doch seinen Fußabdruck auf der Straße des Lebens – ökologisch und sozial. Und so frage ich mich: Bin ich unterwegs in eine lebensfreundliche Welt mit Hand und Fuß, oder wird die Natur so stark ausgebeutet, dass die Lebensmöglichkeiten der Menschen in anderen Weltregionen und der kommenden Generationen beschnitten sind?
In einem Gebet aus dem 4. Jahrhundert heißt es: Gott hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinem Weg zu führen. Es hängt also von mir ab! Als Christ bin ich davon überzeugt, dass genau das der Weg zum Leben ist: aufrecht unterwegs im Einklang mit sich selbst, mit den Möglichkeiten und Ressourcen, die unsere Welt für alle bietet; ein Weg zu mehr Gerechtigkeit und Frieden zwischen Menschen verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft, in nah und fern. Ich weiß natürlich auch, dass dazu menschlicher Wille alleine nicht ausreicht: Es bedarf noch einmal der Hilfe Gottes, der mich eben aufrichtet, damit ich andere aufrichte. Es geht, nur anders – davon bin ich überzeugt.
Das Röntgenbild vom gebrochen Fuß in den vielen Kirchen unseres Landes ist eine Momentaufnahme von Schmerz, Verletzung und Einschränkung. Es birgt aber auch die Hoffnung darauf, Heilung, Selbststand und Selbstständigkeit wieder zu erlangen, wieder auf die Füße zu kommen, selber stehen und gehen zu können, im wörtlichen und übertragenen Sinn.
Das Zeugnis vieler Menschen nur aus Chile macht mir Mut, genau so wie der Einsatz vieler auch hier bei uns. Ich denke jetzt an die Menschen, die sich in der Corona-Zeit um Infizierte und Kranke kümmern, die Nachbarn helfen und ihre Aufmerksamkeit den alten Menschen schenken durch Anrufe oder Besuche. Es geht doch, nur anders – wenn ich erst einmal aufstehe. Diesen Mut und die Zuversicht, dass es lohnt, aufzustehen, wünscht Ihnen Markus Offner, Diakon aus Aachen.