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„Nächstenliebe leben“ – Soldat:innen in der Corona-Amtshilfe

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Das Geistliche Wort | 14.03.2021 | 08:40 Uhr

„Nächstenliebe leben“ – Soldat:innen in der Corona-Amtshilfe

Autor: „So habe ich das hier niemals gewollt“, sagt der Leiter des Evangelischen Altenzentrums Leichlingen. Wir gehen durch eine gepflegte Grünanlage. Ganz in der Nähe plätschert ein Bach. Es riecht nach Vorfrühling. Alles ist friedlich, beschaulich, liebevoll. Ich überlege: „Was meint der Leiter des Altenzentrums, was hat er in dieser Idylle nicht gewollt?“ Stanislaus Stegemann zeigt auf den grünen Metallzaun, der das Außengelände des Altenzentrums vom Garten abtrennt: „Wir hatten und wollen eine offene Anlage, in die man frei hineingehen kann und nun haben wir diesen Zaun bauen müssen, um die Begegnungen nach draußen zu kontrollieren. Das habe ich nie gewollt und unsere Bewohner haben das nicht verstanden, das sie sich nicht mehr einfach frei bewegen können. Einige haben ratlos an dem Zaun gerüttelt und sind dann umgedreht.“


Ich habe mich zum Besuch angemeldet in diesem Altenheim bei Leverkusen. Es ist ein sonniger Dienstagnachmittag. Ich höre die Vögel, ganz allmählich erwacht die Natur. Alte Menschen kommen uns entgegen, manche am Rollator, viele grüßen freundlich. Ich bin nicht allein mit dem Leiter des Altenzentrums. Mich begleiten zwei Soldaten: Hauptfeldwebel Eric Raabe und Oberfeldwebel Deniz Dagci haben hier wochenlang gearbeitet. Sie kennen den Weg zum Testzentrum. Erst nach dem Test dürfen wir hinein. Wir erhalten Passierscheine, kontrollieren unsere FFP2-Masken und betreten gemeinsam das Haus.


Das evangelische Altenzentrum in Leichlingen bei Leverkusen war ein „Corona-Hotspot“. Seit Anfang Dezember hat das Haus fast die Hälfte seiner Bewohnerinnen und Bewohner verloren. Sie starben an der Viruserkrankung COVID 19. Manchmal waren es drei Menschen in einer Nacht. So viele Tote in so kurzer Zeit. Das gab es noch nie in diesem Haus. Auch 64 von 120 Mitarbeitenden hatten sich infiziert. Stanislaus Stegemann erzählt von dieser Zeit und wie alles anfing:


O-Ton 1 Stanislaus Stegemann: „Wir wurden überrascht von einem positiven Befund eines Bewohners, der hochgradig demenziell war, durchs Haus gegangen ist und wir in einem unbeobachteten Moment diesen Keim quasi ins Haus bekommen haben.“


Autor: Das war am 27. November. Nach drei Tagen waren zunächst 15 alte Menschen und zehn Mitarbeitende infiziert. Zwei Tage später waren es mehr als doppelt so viele Infektionen. Der Virus ließ sich nicht mehr aufhalten.


O-Ton 2 Stanislaus Stegemann: „Somit fielen permanent bei uns Mitarbeiter aus. Bis zu dem Zeitpunkt, wo wir die Versorgungsqualität der Bewohner, die ja mittlerweile eine viel höhere Anforderung hatte als vorher, nicht mehr leistbar war.“

Autor: Inzwischen haben wir das lichtdurchflutete Foyer des Altenzentrums erreicht. Ich stehe mit Herrn Stegemann und den beiden Soldaten im großzügigen Eingangsbereich mit bodentiefen Fenstern, die sich zum Garten im Innenhof öffnen.


Hier habe ich vor einigen Wochen schon mal gestanden, in diesem hellen, einladenden Eingangsbereich. Sofort habe ich alles wieder vor Augen: Denn hier mitten im Foyer des Altenheims habe ich einen militärischen Appell erlebt.


Acht Soldatinnen und Soldaten des Luftwaffengeschwaders in Nörvenich sind vor einem Oberstleutnant der Luftwaffe angetreten. Sonst bringen sie den Eurofighter in die Luft.


Diese Soldatinnen und Soldaten sind keine Pflegerinnen und Pfleger. Und waren doch da. Auf den Stationen, mit pflegerischen Hilfsdiensten, mit dem Holen und Anreichen von Essen und im Kontakt mit den Menschen, die hier leben, während wieder ein Sarg nach draußen getragen wurde. Und nach vier Wochen haben sie sich hier im Foyer mit einem formvollendeten militärischen Appell verabschiedet. In Flecktarn stillgestanden, militärische Haltung mit Maske. Genau unter dem Kronenkreuz. Und viele Mitarbeitende und Bewohner schauten beeindruckt zu – ich sah Tränen in manchen Augen. Hier verabschiedeten sich ihre Soldaten. Es hatte zusammengefunden, was denkbar weit auseinanderliegt: Die Altenpflege in der evangelischen Diakonie und ein militärischer Appell der Luftwaffe: „Augen geradeaus!“


Musik 1: Omar Sosa, “Reposo”, CD: Mulatos, Track 4, Skip Records GmbH under License of Otá Records, Hamburg 2004, LC 10482.


Autor: „Augen geradeaus!“ Und das in einem Pflegeheim der Diakonie. Ein Abschied nach vier intensiven Wochen. Den Soldaten wurde mit bewegenden Worten von Stanislaus Stegemann gedankt. Wie fing das an?


Im Dezember 2020 waren immer mehr BewohnerInnen und Mitarbeitende an COVID 19 erkrankt. Der Leiter des Altenzentrums bat die Behörden um Unterstützung. Er hoffte, dass Sanitätspersonal aus dem Katastrophenschutz oder von der Bundeswehr käme, das mithelfen könne, die Lage im Haus zu stabilisieren, irgendwie. Er hoffte auf Fachpflegepersonal. Aber dann erfuhr er, dass Soldaten vom Bundeswehr-Flughafen Nörvenich mit einer technischen Qualifikation zu ihm abgestellt wurden.


O-Ton 3 Stanislaus Stegemann: „So war innerhalb der ersten anderthalb Tage eine völlige Verunsicherung: War das überhaupt der richtige Weg, den wir eingegangen sind? War das die richtige Anfrage? Bekommen wir denn die tatsächliche Hilfe, die wir auch benötigen?“


Autor: Es gab kaum Zeit, die Soldatinnen und Soldaten einzuarbeiten. Pflegekräfte werden monatelang auf ihren Dienst vorbereitet. Die Soldatinnen und Soldaten der Luftwaffe hatten nur wenige Stunden. Aber dann stellte sich heraus …

O-Ton 4 Stanislaus Stegemann: „...dass hinter der Uniform, die wir ja erst einmal vordergründig gesehen haben, tatsächlich auch Menschen steckten, die nicht nur nach Vorschrift und nach Vorgaben gearbeitet haben, sondern aus dem Begriff heraus: Ich sehe einen Bedarf, ich sehe Hilfsbedarf und ich tue das, was ich kann. Und damit haben die Soldatinnen und Soldaten unglaublich viel Gutes an der Stelle getan.“


Autor: Sie sind hineingewachsen, diese Soldatinnen und Soldaten, in die Aufgaben im Altenzentrum. Haben hier gewohnt. Täglich mitgearbeitet. An Weihnachten. Über den Jahreswechsel. Gemeinsam mit dem Pflegepersonal, an der Seite von allen, die hier tätig sind, haben sie diese Lage bewältigt. Im Rückblick beschreibt Oberfeldwebel Deniz Dagci, wie es ihm in diesen ersten Tagen ging:


O-Ton 5, Deniz Dagci: „Über den Zeitraum, wo wir sprechen, das war halt über Weihnachten und Neujahr. Und dadurch, dass dann auch viele der Bewohner in Quarantäne waren, ist mir das persönlich auch schon sehr nahe gegangen, weil die Weihnachtsfeiertage, die bedeuten für viele ja wirklich alles. Und dann ist man da auf einmal alleine, obwohl man sonst im Kreis der ganzen Familie war, der Personen, die man liebt.“


Autor: Auch Wochen später wird klar, wie sehr den Oberfeldwebel das mitgenommen und bewegt hat. Er erzählt davon, wie er die Bescherung am Heiligen Abend erlebte, als die Pflegekräfte die Geschenke brachten.


O-Ton 6, Deniz Dagci: Die Bewohner wunderten sich: Wo sind denn jetzt meine Familienangehörigen? Die Pflegekräfte haben dann quasi die Briefe vorgelesen und bei dem einen oder anderen Bewohner dann dementsprechend die Tränen gesehen. Und dann stand man dann halt im Flur durch die Tür schauend, wo man sich dann dachte: Verdammt, ich fange jetzt gleich auch an zu weinen, weil das echt berührend war und auf jeden Fall eine sehr harte Zeit, muss ich sagen. Also da kam alles auf einmal und zum schlechtesten Zeitpunkt.“


Musik 1


Autor: Was zählt in einem Menschenleben? Und was bleibt davon am Ende? Was ist wirklich wichtig in dieser Zeitspanne, die uns geschenkt ist? Und wie gehen wir mit den Menschen um, die krank und gebrechlich sind nach einem langen Lebensweg? Diese Fragen haben sich auch die Soldatinnen und Soldaten gestellt, die in den Altenheimen im Einsatz waren. Inzwischen haben sie ihren Alltag in Nörvenich wieder aufgenommen. Bringen wieder den Eurofighter in die Luft. Haben den Pflegekittel gegen die Flecktarn-Uniform getauscht. Aber was sie erlebt haben, wirkt nach. Ganz besonders jetzt, wo wir zu diesem Gespräch wieder zu Besuch sind. Wir sitzen beieinander, die beiden Soldaten Raabe und Dagci, Stanislaus Stegemann und eine Bewohnerin. Frau Harms ist 95 Jahre alt. Sie erinnert sich an die Soldaten, die hier mitgearbeitet haben. Und lächelt dabei:


O-Ton 7, Bewohnerin: „Ich hatte einen Soldat, der hieß Eric. Und der Sören. Die waren sehr, sehr nett. Wir haben uns auch unterhalten, wir haben Mensch ärgere dich nicht gespielt. Leider musste der Eric auch schon mal viel verlieren. Ja, ja, aber es war sehr schön. Doch. Die können zu jeder Zeit wieder kommen.“


Autor: Diese Soldaten haben sich nicht für Zivildienst, sondern für die Armee entschieden. Und dann waren sie mittendrin in einem Pflegeheim, über Weihnachten. Soziales, menschliches Engagement und Dienst in einer Armee; Luftwaffe und Diakonie - Kirche und Bundeswehr – wie passt das zusammen? Gehört das zusammen?


Als Militärseelsorger beschäftigt mich diese Frage oft. Heute spüre ich, wie sehr es mich berührt, dass diese Lebenswelten zueinander finden, ja, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind. Dass die Menschen in diesem Altenheim nicht alleine blieben, als so viele erkrankt waren und starben. Und dass die Soldatinnen und Soldaten, die hier tätig wurden, Wertschätzung und Anerkennung erfahren, die ihr Dienst sonst nicht immer findet. Ich empfinde in diesem Moment Hochachtung vor den Menschen, die hier zusammengefunden haben. Sie haben diesen Einsatz, der sie verbunden hat, gemeinsam bewältigt.


Musik 1


Autor: Sie haben viel erlebt, diese Menschen in Flecktarn, in diesem Monat im Altenheim. Sie haben Kontakt gefunden zu denen, die hier leben und arbeiten. Und weil es Soldaten sind, haben sie versucht, die Probleme und Schwierigkeiten, auf die sie trafen, sofort und zielgenau zu lösen. Hauptfeldwebel Eric Raabe erzählt von einem Bewohner, der ihn mit den Worten empfing:


O-Ton 8, Eric Raabe: „Bringen Sie mir Strom in die Bude. Und ich hatte dann geantwortet: Aber hier brennt doch das Licht und es ist doch eigentlich alles da, was Sie brauchen. ‚Ja nee, Kommen Sie mit!‘ Und dann musste ich mit zum Tisch. Und dann hieß es da: ‚Wie heißt das hier nochmal?‘ Ich so: ‚Ja, Tisch heißt das!‘ – ‚Nein, das was da drauf liegt! Da bringen Sie Strom rein!‘ Und dann hatte sich herausgestellt, es ging um die Lupe, die aber weder über Batterien verfügte noch irgendwelche elektrischen Leiter in sich hatte.


Autor: Hauptfeldwebel Raabe tat, wofür Pflegerinnen oft keine Zeit haben. Der Soldat der Luftwaffe kümmerte sich um die Technik:


O-Ton 9, Eric Raabe: „Ja, Batterien waren schnell gekauft und elektrische Leiter dann durch eine Büroklammer ersetzt. Und dann funktionierte die Lupe auch. Nur dass das am nächsten Tag, als ich die Batterien hatte, gar keine Rolle mehr spielte, weil die Lupe dann nicht mehr wichtig war.“


Autor: Wie berührend sind diese Erzählungen. Und vielleicht zeigen sie tatsächlich wie unter einer Lupe, worauf es ankommt in diesen Tagen. Dass man hinschaut und zuhört, dass man da ist in der Not und sich einlässt.

Übrigens: Nicht alle der Soldatinnen und Soldaten gehören einer christlichen Gemeinde an. Deniz Dagci, der sich für diesen Dienst über Weihnachten im Altenheim freiwillig gemeldet hatte, kommt aus einer muslimischen Familie. Aber, so sagt er, so wie wir alle als Gemeinschaft von dieser Pandemie betroffen sind, so können wir sie auch nur als Gemeinschaft überwinden. Miteinander. Nicht gegeneinander. Zusammen. Nicht mit Argwohn und Abgrenzung und Missbilligung, sondern mit der ausgestreckten Hand. Für ihn war das selbstverständlich.


Ich finde, das passt hervorragend unter dieses Motto der Diakonie: „Nächstenliebe leben.“ Jesus sagt im Matthäusevangelium: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!“ Ich bin sicher, dass Jesus dabei auch die Schwestern meint. Zum Beispiel die Schwestern und die Pfleger in den Altenheimen und in der Seniorenhilfe, die selten die Anerkennung finden, die ihr Dienst verdient. Vor ihnen haben nicht nur diese beiden Soldaten große Hochachtung.


Denn sie kümmern sich länger als vier Wochen um die Menschen, die nach ihrem langen Leben alt geworden sind. Begleiten, wenn Beine nicht mehr tragen und Augen nicht mehr sehen. Wenn Demenz das Gedächtnis, die Sprache und jede Orientierung nimmt. Verdienen diese alten Menschen nicht die höchste Ehre in unserer Gemeinschaft? Auch dann, wenn sie wieder wie Kinder werden, die Hilfe brauchen? Wie viel gelebtes Leben bringen sie mit. Die Pflegekräfte in unseren Altenheimen erzählen davon. Und manche Soldaten auch. Viele tausend von ihnen arbeiten weiterhin in Testzentren, in Altenheimen, in Gesundheitsämtern und noch viele mehr auf ihren Dienstposten in unserer deutschen Armee. Es sind Menschen. Ausnahmslos. Und manche ganz besonders menschlich. Gott sei Dank.


Nächstenliebe leben. Taugt das nicht als Motto für diese Zeit weit über die Diakonie hinaus? Nächstenliebe ist nicht nur in Altenheimen, nicht nur in der Armee eine sehr lebendige und kräftige Liebe. Sie wird gebraucht.


Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag, auch dann, wenn Sie nicht gesund sind oder sich nicht gesund fühlen. Sie sind und bleiben – ganz gleich, wie krank oder gesund – Teil unserer menschlichen Gemeinschaft.


Gott behüte Sie auf Ihrem Weg!


Ihr Pfarrer Uwe Rieske aus Bonn.



Musik 4: Omar Sosa, “Mis Tres Notas”, CD: Ballads, Track 1, Ota Records Hamburg 2005,

Skip Records GmbH under License of Otá Records, Hamburg 2005, LC 10482.




Redaktion: Pfarrerin Julia-Rebecca Riedel

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