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Das Geistliche Wort | 18.07.2021 | 08:40 Uhr

Kaum auszuhalten - die Ruhe

Guten Morgen!

Ferien oder Urlaub sind keine Wörter im kirchlichen Kalender.

Umso mehr fällt auf, dass alle drei Jahre an einem Sonntag, der mit Sicherheit in die Ferienzeit fällt, in der Messe ein Evangelium vorgelesen wird, das an Urlaubsmotive erinnert. Jesus spricht nämlich darin von der Notwendigkeit, sich auszuruhen. Heute ist dieser Sonntag, an dem in den katholischen Gottesdiensten genau dieses Evangelium vorgetragen wird (Mk 6, 30–34). Und so möchte ich heute gerne einmal darüber nachdenken, was es heißt, zur Ruhe zu kommen.

Mir ist natürlich bewusst: Gerade jetzt, nach eineinhalb Jahren Corona, möchten viele Menschen nichts mehr von Ruhe hören. Denn je nach Umständen wurde der pandemiebedingte Lockdown als zwangsverordnete Ruhe empfunden, die kaum auszuhalten war. Alle gewohnten Aktivitäten entfielen – unfreiwillig: die Fahrt zum Arbeitsplatz, die durchaus auch wohltuende Geschäftigkeit des Berufslebens, das Sich-Auspowern im Fitness-Studio, der lebhafte Talk mit Freundinnen und Freunden zu fortgeschrittener Stunde. Corona offenbarte: Die plötzlich eintretende Ruhe als verordneter Stillstand war und ist kaum auszuhalten. Ich spreche da durchaus aus Erfahrung in meinem nächsten Umfeld: Für Menschen, die mir nahestehen, entstanden Leerräume, die sie nun auf einmal nicht mehr füllen konnten.

Ich weiß natürlich auch, dass sich die Sache teilweise ganz anders darstellte: Wenn ich z. B. an die Pflegekräfte auf Intensivstationen in Krankenhäusern oder auch in den Altenheime denke. Oder wie ist es mit den Paketdiensten bei verschiedenen Konzernen des Internet-Versandhandels? Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten in den letzten Monaten nicht einmal Zeit, das Wort Ruhe auszusprechen. Dabei sehnten sie sich nach nichts mehr als der großen Unterbrechung, endlich mal wieder zur Ruhe zu kommen, um die Seele baumeln zu lassen und ihre ausgesaugten Kammern wieder zu füllen.

Irgendwie ist es doch verrückt: Für die einen ist die pandemische Ruhe unerträglich. Und für die anderen gibt es angesichts der Pandemie nichts Stärkeres als die tiefe Sehnsucht nach ihr.

Da frage ich mich selbst: Was ist Ruhe eigentlich für mich? Wie komme ich zur Ruhe, nach der ich mich tatsächlich sehne? Jede und Jeder hat da eigene Wege. Mir hilft die Musik. Und so möchte ich Sie mitnehmen in einen musikalischen Sommergarten, komponiert von Frederick Delius.


Musik I: Frederick Delius, In a Summer Garden


Ja, was ist das eigentlich: Ruhe – für mich persönlich? Oder was ist sie überhaupt? Beim Nachdenken darüber ist mir aufgefallen, wie viele unterschiedliche Redewendungen es gibt mit dem Wort „Ruhe“.

Ein paar Beispiele: „Lass mich in Ruhe!“ Hier geht es darum, dass ein anderer mich nicht belästigt oder mich mit einem unliebsamen Thema behelligt. Der Andere stört nämlich meine Ruhe. Will heißen: Ruhe meint hier Mit-sich-allein-sein-dürfen. Das ist zum Beispiel wichtig, wenn ich ungestört meine Arbeit machen will und muss. Störungsfreiheit heißt das Zauberwort.

Ein anderes Beispiel: In der Stadt, in der ich wohne, gibt es einige Menschen, die sich sogar über Corona freuen – wegen der nächtlichen Ausgeh- und Versammlungsverbote. Endlich wurde ihre Nachtruhe einmal nicht gestört durch Gruppen, die sich sonst jede Nacht auf einem Grünstreifen in der Mitte einer reinen Wohnstraße zu lautstarkem Abchillen trafen. Hier ist Ruhe der ungestörte Schlaf.

Bewahrt hingegen jemand die Ruhe, dann geht es um eine innere Haltung, die ganz unabhängig ist von äußeren Umständen. Nichts macht diese Person nervös oder bringt sie aus der Fassung. Hier hat Ruhe etwas mit Gelassenheit zu tun, mit dem Ruhen in sich selbst.

Noch ein anderes Beispiel. Diesmal aus der Literatur, aus der Feder des großen deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe. Er ritzte sein Gedicht „Wanderers Nachtlied“ 1780 an die Tür einer Jagdhütte im Thüringer Wald. Da heißt es:


Sprecherin:

Über allen Gipfeln

Ist Ruh',

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur! Balde

Ruhest du auch.


Von der nächtlichen Ruhe der Natur schwenkt Goethe auf einmal um mit einem bedrohlichen: „Warte nur!“ Und im Bild vom Hauch rührt er an das Ruhe-Motiv vom Tod. Erschreckend für mich als Leser des Gedichtes. Ganz offensichtlich hat auch der Komponist Franz Liszt diese eher beunruhigende Mahnung vom Hauch der Ruhe verspürt und sie umgesetzt in seine Musik.


Musik II: Franz Liszt, Schluss „Wanderers Nachtlied“


Was für ein Schritt: Von der Waldesruh zur Grabesruhe. Ich muss unweigerlich an den kirchlichen Gebetswunsch für Verstorbene denken, der bei jeder Beerdigung den Toten hinterher gerufen wird: „Herr, schenke ihnen die ewige Ruhe.“ Hier ist nicht der ewige Dauerschlaf gemeint. Denn was wäre das für eine Perspektive? Hoffnungsvoll scheint mir das nicht zu sein!

Zwar kennt die Heilige Schrift durchaus auch das Motiv des Schlafes. Aber bei Ruhe denkt sie doch meist an etwas anderes. Und zwar verbindet die Heilige Schrift die Ruhe in irgendeiner Weise immer wieder mit Gott. Und zwar als etwas, das Gott weitergeben möchte; als etwas, das er allen, letztlich seiner ganzen Schöpfung von Herzen gönnt. Allein, dass der Schöpfungsbericht im Buch Genesis mit dem siebten Tag endet und zwar als Ruhetag, das gibt doch schon zu denken: Nach getaner Arbeit soll eben Ruhe herrschen (vgl. Gen 1,1-2,3).

Dass Jesus im Bunde mit diesem Ruhe verschaffenden Gott steht, zeigt eben auch das heutige Evangelium (Mk 6,30-31). Da heißt es nach getaner Arbeit der Apostel:


Sprecherin:

Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus!


Jesus hat einen Blick dafür, dass die, die in seinem Auftrag unterwegs waren, eine Unterbrechung brauchen. Macht mal Pause! So lautet sein Rat. Und es bleibt nicht bei bloßen Worten. Er zieht sich mit seinem Freundkreis zurück.

In dieser kleinen Szene wird sehr konkret erfahrbar, wie Gott und Ruhe zusammengehören. Dabei führt der Faden der Gottesruhe noch zu anderen Stellen ins Alte Testament zurück. Wenn man dem nachgeht, entdeckt man, dass dieser Faden mehrere Enden hat: Drei Fadenenden des dicken alttestamentlichen Fadens „Ruhe“ möchte ich ihnen vorstellen.

Der bereits erwähnte siebte Tag als Ruhetag ist existentiell wichtig für das biblische Israel. Der Rhythmus von sechs Arbeitstagen und einem Ruhetag war damals revolutionär: Für alle gleichermaßen, Bosse wie Sklaven wie Tiere, sollte gelten: Aus einer Zeitzählung, die nur Arbeitstage kannte, wurde ein Rhythmus aus sechstägigem Schaffen und Aufatmen am siebten Tag. Für uns Menschen von heute mit arbeitsfreier Wochenendkultur oder tarifrechtlich geregelten freien Tagen und Urlaubsansprüchen ist es kaum mehr nachvollziehbar. Aber damals war diese wöchentliche Zeitunterbrechung so innovativ, dass die Bibel sie nicht nur als Nachahmung des Schöpfungsrhythmus Gottes verstand, sondern auch zum Gebot erhob. Im Buch Exodus heißt es eindringlich (Ex 34,21):


Sprecherin:

„Sechs Tage darfst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen; zur Zeit des Pflügens und des Erntens sollst du ruhen.“


Ruhe meint hier: die Befreiung aus dem Hamsterrad des ständigen Müssens. Selbst der sogenannte Sachzwang – und was könnte in einer Bauernkultur zwingender sein als zu pflügen und zu ernten, wenn die Zeit da ist und das Wetter passt – selbst der Sachzwang hat Nachrang hinter dem Ruhebedürfnis des Menschen. Wie soll er sonst „zu Atem kommen“, wie es an anderer Stelle im Buch Exodus heißt (Ex 23,12)?

Die Sabbatruhe stellt ganz und gar die Wiederherstellung der menschlichen Kräfte in den Mittelpunkt. Die Sabbatruhe wird allen geschäftlichen und auch allen religiösen Interessen vorgeordnet. Mich beeindruckt die Vorstellung von einem Gott der einen Blick hat für die Notwendigkeit des Atemholens, der Unterbrechung, eben der Ruhe. Auch wenn Menschen das vielleicht ganz anders sehen und einem solche Zeiten nicht gönnen wollen – mir gibt diese Gottesvorstellung Kraft und Leichtigkeit für mein Leben. Ja, Leichtigkeit! Der Beginn des folgenden Intermezzos von Johannes Brahms lässt diese Leichtigkeit – wie ich meine – deutlich spüren.


Musik III: Johannes Brahms, Intermezzo b-Moll op. 117 Nr. 2


Ein weiterer Blick auf die Gottesruhe im Alten Testament, also das zweite Ende des göttlichen Ruhefadens. Das finde ich in der Erzählung von Noach, der Sintflut und der Arche. In dieser großen Erzählung von den überflutenden Wassermassen und der Rettung einer einzigen Familie und der Tiergattungen auf der Erde steht am Ende das Versprechen Gottes: Nie wieder werde ich die Erde vernichten. In dieser Erzählung gibt es zwei Gegenpole: die Ruhe – dafür steht Noach und das Chaos – dafür steht die Sintflut. Denn der Name Noach bedeutet nichts anderes als „Ruhe“. Die ungebändigten Wasser hingegen sind im ganzen Alten Orient Symbol des Todes und aller Leben verschlingenden Mächte. Im übertragenen Sinne kenne ich die Erfahrung dieser Macht des Chaos. Es ist das Gefühl: Ich werde überflutet mit einer Fülle von Aufgaben. Das Gefühl der Ohnmacht lässt mich untergehen angesichts von Erwartungen, von gefühltem Zeitmangel oder von Folgen tückischer Krankheiten mit ihren unabsehbaren Folgen. Wer wünscht sich da nicht Ruhe? Wer wünscht sich nicht einen Schutzraum wie die Arche, in den die Wasser des Untergangs nicht eindringen können? Eine kleine Arche habe ich für mich gefunden: Mir hilft die morgendliche Lektüre eines geistlichen Textes, in dem vielleicht ein Impuls für den Tag steckt. Oder mich beflügelt etwas Musik. Gar nicht geistlich, gar nicht fromm, einfach meinem inneren Ohr wohltuend. Chopins folgender Walzer zum Beispiel, ist für mich so eine beruhigende Wohltat.


Musik IV: Fréderic Chopin, Valse h-Moll op. 69 Nr.2


Eine dritte Vorstellung von der Gottesruhe im Alten Testament möchte ich aufnehmen, das dritte Ende des Ruhefadens. Gott selbst scheint der Ruhe zu bedürfen. Eine eher befremdliche Vorstellung – scheint sie doch eher der Vorstellung des Menschen von Gott zu entspringen. Und doch heißt es ausdrücklich in Psalm 132 (Vers 14) von Gott: „Das ist für immer der Ort meiner Ruhe, hier will ich wohnen.“ Gemeint ist dabei der Zionsberg, also Jerusalem bzw. genauer: der Tempel. Offensichtlich ist der Wunsch nach einem Gefühl bleibender Ruhe für die Menschen so groß, dass sie ihn sogar auf Gott übertragen haben. Dabei geht es wohl weniger um einen wirklichen Ort, sondern um das Gefühl, zur Ruhe gekommen zu sein, angekommen zu sein. Hier ist Ruhe nicht mehr nur eine Unterbrechung zwischen Zeiten des ständigen Weitergehens, sondern Ausdruck eines völligen In-sich-Ruhens, das auch nicht mehr von den Gesetzen der Zeit durcheinandergewirbelt wird. Es ist eben nicht mehr die Ruhe, die man zwar genießt, bei der man aber doch schon an den erneuten Aufbruch denkt. Ruhe meint hier eher einen Zustand unbegrenzter Zufriedenheit.

Ruhe als Angekommen-Sein, ohne wieder wegzumüssen, ist ein geradezu göttlicher Zustand, der in diesem Leben vermutlich höchstens momenthaft aufscheinen wird. Christinnen und Christen erwarten und erhoffen ihn dauerhaft als krönenden Abschluss ihres Lebens – als Gottesgeschenk. Es ist damit keine Erstarrung gemeint, sondern eine Vollkommenheit. Ich bin davon überzeugt: Dieses Gottesgeschenk der Ruhe ist bereits hier erlebbar. Es ist spürbar in Momenten, in denen das Chaos dem Gefühl weicht: So ist es gut. Wenn eine tiefe Zufriedenheit aufkommt. In solch einem Augenblick darf der Mensch sich selbst als den Ort sehen, von dem Gott sagt: „Du bist der Ort meiner Ruhe. Hier will ich wohnen.“

Diese Erfahrung wünsche ich Ihnen. Und vielleicht erahnen Sie, was diese göttliche Ruhe im Menschen ist, wenn sie jetzt zum Schluss in der Orchesterbearbeitung von Edward Elgar eine Orgelfantasie von Johann Sebastian Bach hören. Aus Köln verabschiedet sich Gunther Fleischer.


Musik V: J. S. Bach, Fantasie, aus: Fantasie und Fuge c-Moll BWV 537, orch. von Edward Elgar

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