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Das Geistliche Wort | 01.08.2021 | 08:40 Uhr

Ohrenschmaus und Seelenpflaster

Die Dame ist mittleren Alters und regelmäßig Gast bei den Gottesdiensten, denen ich mitunter vorstehe, hier in der Marienbasilika in Kevelaer. Nur: Sie kommt nicht zum Beginn des Gottesdienstes, sie kommt zuverlässig am Ende. Und dadurch ist sie mir aufgefallen. Während des Segens sucht sie sich ihren Platz. Wenn vermeintlich schon alles vorbei ist und ich den Pilgerinnen und Pilgern einen gesegneten Wallfahrtstag wünsche. Und noch bevor das Schlusslied überhaupt begonnen hat, richtet die Dame sich regelmäßig ein. So, als würde sie sich intensiv vorbereiten… auf eine Konferenz etwa, oder eine Anwendung. Sie stellt dann den Fahrradkorb ab, zieht die Jacke aus und dann: nimmt sie Platz und schließt die Augen.

Der Segen ist gesprochen, das Schlusslied ist gesungen und ich gehe, wie ich es mir angewöhnt habe, durch die Kirche nach draußen. Und dort sitzt sie dann. Die Augen geschlossen, den Kopf etwas in den Nacken gelegt, die Hände auf den Oberschenkeln. Und… sie lauscht. Dem Orgelnachspiel, mit welchem unser Basilikaorganist die Menschen beschenkt. Es ist aber auch ein besonderes Instrument, diese große Seifertorgel, hier in Kevelaer. Und wie sie mit ihrem Klang den großen Kirchenraum erfüllt, dass nimmt die meisten Menschen mit. Von leichtem Säuseln, bis hin zur fast unerträglichen Macht und Lautstärke der Register ist alles dabei.

Elmar Lehnen ist unser Organist. Und der sagt immer, er dürfe die schönste Filmmusik machen. Und in der Tat: das tut er. Und selbst wer mit der Liturgie an sich nichts anfangen kann: Hier in Kevelaer erschließt sich deren Dramaturgie auch für religiös Unmusikalische: der Einzug der Pilger nach langem Fußmarsch, der Blick in das Sternengewölbe der Kirche, die Evangelienprozessionen, der aufsteigende Weihrauch, aber auch die Bitten der vielen Pilger… das alles bekommt noch viel mehr Gravitas durch die Musik unserer Orgel. Der perfekte Soundtrack für das liturgische Spiel am Altarraum.


MUSIK 1: Elmar Lehnen an der Seifert-Orgel der Marienbasilika in KIevelaer, Improvisation über Salve Regina, consonanzà 4.


In diesem Jahr ist das Jahr der Orgel. Und endlich spielt die „Königin der Instrumente“ mal wieder eine größere Rolle. Mir gefällt das nicht nur, weil ich mich selber hier und da an der Orgel versuche. Sie fasziniert mich seit Kindertagen. Das Jahr der Orgel gefällt mir auch, weil sicher auch Menschen dadurch in unsere Kirchen kommen. Klar: Orgeln gibt es auch in der einen oder anderen Konzerthalle. Aber ihr natürliches Habitat ist eine Kirche – um es mal so zu sagen.
Ich selber kann dem Orgelklang in der Atmosphäre von Konzertsälen wenig abgewinnen. Aber: in einer Kirche packt es mich regelmäßig. Plötzlich wird deutlich: Kultur und Kirche, das passt nicht nur zusammen, sondern es gehört auch zusammen. Der Dichter Christian Morgenstern hat vor etwas mehr als hundert Jahren dazu einige Zeilen geschrieben, die er unter die Überschrift „Machtrausch“ gestellt hat. Er schreibt:

„Dich zu spielen, gewaltige Orgel

Blind,

mit tastenden Händen

über den Herzen der Welt!“[1]

Und in der Tat: diese Musik entsteht zwischen Himmel und Erde auf den Orgelemporen. Dort stehen sie: Die wertvollen und oft sehr komplexen Instrumente. Wenn jemand kommt um sie zu spielen, dann muss es ihm gelingen, diesen Spagat mit Musik und Herz zu füllen. Es muss quasi Filmmusik entstehen, die einen Blick in den Himmel eröffnet, die aber auch die Herzen der Menschen unten in der Kirche erreicht und etwas von dem hörbar macht, was sie gerade bewegt. Morgenstern umschreibt es wunderbar:

„Mit jedem Griff

Unnennbares lockend,

eine Fuge

aus Seufzern,

Gelächtern,

Flüchen,

Wehklagen,

Wollüsten,

Jauchzern ...“


MUSIK 2: Hansjörg Fink & Elmar Lehnen, Requiem, In Paradisum / Sanctus und Benedictus


Wenn die Liturgie der Kirche wirklich eine Lebensweghilfe sein will, dann muss sie die Lebensmelodien der Menschen aufnehmen. Es muss ihr gelingen, die Menschen irgendwie zum Klingen zu bringen. Alles andere wäre doch höchstens ein frommes Schauspiel und -wenn überhaupt- gerade mal gut genug, um für ein wenig Kurzweil zu sorgen.

Gottesdienst ist aber eben kein Schauspiel, kein Film, kein Konzert. Gottesdienst will und muss doch mehr sein: Ich möchte darin vorkommen. Ich möchte, dass meine Jetzt ernst genommen wird und dies mit aller Konsequenz. Was für eine Weite von Gefühlen und Gedanken, von Wünschen und Sehnsüchten, von Hoffnungen und zerstörten Träumen, von Verletzungen und Narben bringe ich mit. Ich kann das einfach nicht alles in Sprache bringen. Das überfordert mich und andere. Aber: Ich trage es trotzdem mit mir herum.

Jemand sagte einmal: „Wir tragen unsere Wunden innen!“ – Das stimmt. Unsere ganzen Baustellen sind oft nur uns bekannt. Verdeckt und oft verdrängt ist das, was uns lebenslang in den unsichtbaren Rucksack gesteckt wurde, den wir mit uns herumtragen.

So kommen auch die vielen Pilgerinnen und Pilger nach Kevelaer. Dort ist ein Ort, an dem sie diesen Rucksack öffnen können. Ehrlich und offen reinzuschauen, dass kostet Mut und oftmals auch Kraft. Es konfrontiert mich mit mir selber. Und keine Frage: das kann auch weh tun und ans Eingemachte gehen.

Und dann kommt die Musik. Was die Orgeln, und jene, die sie spielen, in unseren Kirchen an Seelsorge leisten, das ist sprichwörtlich
„großes Kino“. Zurück zu der Frau in der Basilika in Kevelaer. Sie erinnern sich? Eines Tages habe ich sie angesprochen… so ganz zufällig eigentlich. Was sie mir sagte, das war sicher sehr direkt, aber es hat mich ebenso schonungslos direkt berührt: „Eure ständigen Worte kann ich nicht mehr hören. Sie stimmen nicht.
Sie sind nicht echt!
Die erreichen mich nicht! Entschuldigung! Der Ohrenschmaus hier, der ist für mich Seelenpflaster! Der ist ehrlich!“


MUSIK 3: Klaus Hoffmann, „Wenn die Musik nicht wär“


„Der Ohrenschmaus ist für mich Seelenpflaster!“ – Der Satz der Dame in der Marienbasilika hier in Kevelaer – der hatte gesessen. Der holt auch die wortgewandtesten Predigerinnen und Prediger auf den Boden der Tatsachen zurück. Es gibt Menschen, die können mittlerweile die Wortlastigkeit der Kirche kaum ertragen. Klar: Die gesamte Verkündigung, jedes Wort was wir sagen ist dieser Gefahr ausgesetzt. Aber, das gilt umso mehr, wenn man scheinbar dem Wort nicht mehr trauen kann. Dann traut man auch seinem Inhalt nichts mehr zu und das Vertrauen selber ist verspielt. „Im Anfang“, so heißt es zwar, „war das Wort!“, aber dieses war eben bei Gott. Und genau dieses Wort und seine Glaubhaftigkeit setzen wir aufs Spiel in diesen Tagen.

Meine Kirche hat in diesen schweren Zeiten der Krise vielleicht nur noch wenige Chancen, dieses Vertrauen nicht zu verspielen. Ich bin sicher: Eine Worthülse nach der anderen wird hier keine Wende bringen.

Und dass in diesem Kirchen-Krisenjahr ausgerechnet von nichtkirchlicher Seite das „Jahr der Orgel“[2] ausgerufen wurde, das baut eine Brücke. Wo den Kirchenworten wie den Kirchen-Verant-wortlichen nicht mehr vertraut wird, könnten Kirchenleute ein Experiment wagen. Sie könnten doch einfach - bis auf das Wort der Verkündigung der frohen Botschaft - auf Worte verzichten. Keine Füllsätze, keine Floskeln, keine Erklär-Aufsätze und Belehrungsschreiben, keine Ausgrenzungsreden und Rechtfertigungs-Salven.

Wenn man dem Wort nicht mehr traut, dann geht es ans sprichwörtliche Eingemachte, es geht ums Ganze. Was wir als Kirche aufs Spiel setzen ist das größte und wichtigste Gut überhaupt. Als Kirche ist uns diese Botschaft von Liebe, Freiheit und Hoffnung für alle Menschen nur anvertraut. Die Botschaft gehört uns nicht. Sie hat uns nie gehört. Die Botschaft ist uns anvertraut, sie zu verschenken und zu den Herzen zu bringen. Wo Worte das nicht mehr leisten können, da braucht es den Mut nach dem zu suchen, was echt und ehrlich die Herzen der Menschen erreichen kann um die Botschaft lebendig zu halten. Daher mein Plädoyer: Weniger Worte, mehr „Ohrenschmaus aus Seelenpflaster“.


Musik 4: Markus Belmann an der Orgel der Maxkirche in Düsseldorf, J. S. Bach, Triosonate Nr. 1 Es Dur, 1. Satz


Was könnte das für ein Geschenk sein. Ohren auf! Herz an! „In der nächsten Zeit predigt die Orgel!“, so könnte man an den Kirchentüren angeschlagen sehen. Warum? Weil sie es schafft mit ihrer Musik in die Herzen der Menschen zu treffen. Und es kämen tolle „Prediger“ an die Macht, die schon jetzt Gottesdienst für Gottesdienst eine tolle Verkündigungsarbeit leisten. Unsere Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker und mit ihnen die vielen Menschen, die sich für den „Ohrenschmaus und das Seelenpflaster“ der Musik in unseren Kirchen engagieren. Ich denke an diese vielen Menschen in Chören, Orchestern und Instrumentalgruppen in den Kirchengemeinden. Weil sie alle für die Sache brennen, ist ihre Musik echt und ehrlich und unser derzeit glaubwürdigstes Zeugnis.

Der Domchor, der mit Mendelssohns Tönen das Hoffnungslied singt: „Hebe deine Augen auf!“

Der Kinderchor, der quietischig und lebendig singt: „Gott hat alle Kinder lieb. Jedes Kind in jedem Land!“ – Diesen Worten, vielleicht nur ihnen allein, kann ich noch trauen in diesen Tagen.

Das Blasorchester und der Posaunenchor, der inbrünstig und oft etwas falsch von Luthers Überzeugung spricht, dass unser Gott alleine uns feste Burg ist und nicht die Ordinariate und Strukturen.

Und eben: die Orgel. Sie kann es auf großartige Art uns Weise solistisch. Da brilliert sie und ihr Klang breitet sich in Kapellen, Kirchen und Kathedralen aus.

Aber: die Orgel kann sich auch zurücknehmen. Dann dient sie und begleitet. Die Solistin und den Chor, die Instrumentalisten und die Gemeinde bei ihrem Gesang. Bei dem, was „grade dran ist“. So tut sie Dienst und ist denen zum Trost, die trostlos sind, denen zum Licht, die lichtlos sind und wird denen Lied, die selber grade alles andere im Sinn haben als zu singen… weil ihnen die Töne im Halse stecken geblieben sind.

So wünsche ich mir meine Kirche. Ein wenig so, wie die Orgel. Wenn sie solistisch, also alleine aktiv wird, dann nur, um zu dienen und den leeren Raum zwischen uns und Gott zu füllen. Mit Musik und Ohrenschmaus, der zum Seelenpflaster wird.

Und wenn sie begleitet, dann nimmt sie sich zurück. Sie lässt sich in Dienst nehmen und muss nicht die erste Geige, pardon: Orgel, spielen. Sie liefert Filmmusik für die Lebensfilme all jener, die eine Kirche wie die Marienbasilika wie hier in Kevelaer besuchen. Und da sind sie alle vertreten: Die Romanzen und Dramen, die Thriller und Actionfilme, die Komödien und Trauerspiele unserer Tage.

Es ist Ferienzeit und Gott sei Dank werde ich mit meiner Familie ein wenig reisen dürfen. Ich persönlich habe mir vorgenommen: Mindestens einmal möchte ich die Orgel hören. Ich möchte, dass sie zu mir predigt und ich hoffe, es gelingt ihr: Denn auch ich brauche in diesen kirchlich schweren Wochen und Monaten ein Seelenpflaster. Auch ich bekenne: Genug der Worte! Lasst die Orgel sprechen. In diesem Sommer, in diesem Jahr der Orgel und überhaupt.

Und zum Schluss noch einmal Christian Morgenstern, der in seiner Dichtung „seinen“ Organisten schwärmen lässt:


„So zu sitzen!

Blind

vor brausendem Tönemeer –

unter meiner Hand

Und ein Lauschen

auf allen Sternen ...“


Musik 5: Hansjörg Fink & Elmar Lehnen, Tranquility


(Darin):
Ich bin Bastian Rütten und lade Sie als Wallfahrtsreferent herzlich ein nach Kevelaer – ob Sie nun zur Muttergottes kommen, oder einfach einen schönen Tag am Niederrhein verbringen wollen: lassen Sie sich unsere Orgel nicht entgehen, hier in der Marienbasilika. Der Ohrenschmaus ist Ihnen versprochen!


Musik 5: International Brass und Elmar Lehnen, L. Boellmann, Suite Gothique, Op. 25: II. Menuet Gothique


[1] http://www.zeno.org/Literatur/M/Morgenstern,+Christian/Gedichte/Ich+und+die+Welt/Macht-Rausch

[2] https://www.instrument-des-jahres.de/

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