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Das Geistliche Wort | 29.08.2021 | 08:40 Uhr
Werdet Täter des Wortes, nicht nur Hörer
Er war Soldat, seine Kleidung verriet ihn. Er stand am
Rand der Autostraße nach Jerusalem. Ein Anhalter. Er signalisierte mir, dass er
mitgenommen werden wollte. Ich hatte Gäste der deutschen Benediktinerabtei in
Jerusalem zum Flughafen nach Tel Aviv gefahren. Jetzt befand ich mich auf dem
Rückweg nach Jerusalem. Ob er, der Soldat, bei mir, dem Fremden, einsteigen
durfte? Wir waren uns beide nicht sicher. Aber es wurde eine sehr unterhaltsame
Fahrt. Es war ein Gespräch über Religion, religiöse Praxis und „die Zehn
Gebote“.
Ich habe in der Begegnung mit
diesem jüdischen Soldaten Wichtiges über seine religiöse Praxis und über sein
Verständnis von Geboten gelernt. Es gab zwischen uns eine große Nähe zu den
Weisungen des „Ha Shem“, des heiligen Namens. Kurz: zu den von Gott dem
Menschen geschenkten
„Zehn Geboten“. Und
doch war da ein unterschiedliches Verständnis von Religion zwischen Juden und
Christen, zwischen ihm und mir.
Musik1
David Orlowski Trio „Sababa” (aus dem Album
„Chronos“)
Damals lebte und arbeitete ich in Jerusalem, in Israel
und Palästina. Und ich lebte in der Gemeinschaft der deutschsprachigen
Benediktiner-Abtei. Natürlich wollte mein israelisch-jüdischer Mitfahrer bald
wissen, warum ich in Jerusalem lebte. Es entspann sich folgendes Gespräch, an
das ich mich sehr gut erinnere:
Seine Frage: „Woher kommst du?“
Meine Antwort, etwas zögerlich, : „Aus Deutschland.“ Ein kurzes, vielsagendes
Schweigen stand zwischen uns, und es blieb auch stehen. Ich hätte gerne
gewusst, was er dachte, als ich das Wort Deutschland
aussprach. Hatte er Vorfahren, die durch Deutsche ermordet wurden – oder
zumindest vertrieben und dann im damaligen Palästina gelandet waren? Auch dort
nicht willkommen?
Doch dann kam seine
weitere Frage: „Woher?“ Meine Antwort: „Aus Mönchengladbach!“ Und, um ein
Missverständnis erst gar nicht aufkommen zu lassen, wiederholte ich noch
einmal: „Nicht aus München, ich komme aus Mönchengladbach.“
„Ah“, antwortete er, „aus dieser Stadt kam
die erste deutsche Fußballmannschaft nach Gründung des Staates, die in Israel
spielen durfte.“ Das war mir nicht bekannt, er aber erinnerte sogar einzelne
Namen: Brülls, Netzer, Vogts... Und natürlich den legendären Trainer Hennes
Weisweiler. Dann die nächste Frage von ihm: „Und wo lebst du jetzt in
Jerusalem?“ „ Auf dem ‚Har Sion‘, auf dem Berg Sion, in der Dormitio-Abtei. Ani
nasir“, fügte ich hinzu, „ich bin ein Mönch!“
Seine schnelle Antwort: „Ich bin auch gläubig. Ich komme aus „Mea
She‘arim“. In diesem Stadtteil von Jerusalem wohnen zumeist ultraorthodoxe
Juden, Männer und Frauen und ihre Kinder, die sehr genau den Weisungen der
Thora und ihrer Auslegung
durch ultraorthodoxe
Rabbiner folgen. Ich sah kurz zu ihm hin. Er trug keine Kippa, keine religiöse
Kopfbedeckung. Er verstand sofort und erklärte mir: „Ja, zur Zeit bin ich
ungläubig.“ Dann, auf meinen erstaunten Blick, „beim Militär ist das sehr
schwer, gläubig zu leben - zu viele Kompromisse. Aber nach der Armee gehe ich
wieder nach Mea Shearim zurück und dann bin ich wieder gläubig. Dann kann ich
wieder ohne Einschränkungen nach der Thora leben.“ „Gläubigsein“ bedeutete
also für ihn, eine religiöse Praxis zu haben
- nach der Weisung seiner Lehrer. Das hatte er mich auf dieser Fahrt vom
Flughafen nach Jerusalem gelehrt.
Musik2
David Orlowski Trio „Carnyx” (aus dem Album „Chronos“)
30 Jahre ist mein Gespräch mit dem jungen Soldaten auf
der Fahrt vom Flughafen nach Jerusalem her. Oft habe ich noch darüber nachgedacht.
Ich habe auch mit anderen Juden darüber gesprochen, die nicht in einem ultraorthodoxen
Viertel leben. Ob seine Religions-Lehrer, seine Rabbiner, mit dieser einfachen
Kurzformel einverstanden gewesen wären, steht dahin: Gläubigsein = religiös
praktizierend, ungläubigsein = nicht praktizierend, zumindest zeitweise. Manche
fanden das dann doch zu einfach. Für den jungen Soldaten aber galt: Gläubigsein
bedeutete: Orthopraxie, die richtige Praxis üben: D. h. tägliche Gebetspraxis,
den Shabbat und die jüdischen Feste feiern,
die Reinheitsvorschriften, das koshere Essen und Trinken beachten… usw.:
Wenn er das mit seinen ultraorthodoxen Schwestern und Brüdern in Mea Shearim
teilte, dann war er „gläubig“. Jetzt aber, während seiner Armee-Zeit, war er,
wie er sagte, „ungläubig“. Die Kompromisse taugten ihm nicht, obschon in Israel
auch die Armee Rabbiner, also Geistliche, beschäftigt. Sie garantieren während
der Armeezeit orthodoxen wie ultraorthodoxen Menschen eine religiöse Praxis.
Aber für ihn, den jungen Soldaten, galt das nicht. Er sah zu viele, für ihn
unehrliche Kompromisse. Seine Ehrlichkeit beeindruckte mich.
Musik3
David Orlowski Trio „Indigo” (aus dem Album
„Chronos“)
Im sogenannten „Jakobusbrief“, im christlichen Neuen
Testament, finde ich heute den Satz: „Werdet Täter des Wortes, und nicht nur
Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst.“ Und im nächsten Satz wird der Brief sehr
konkret. Da heißt es: „Ein reiner und makelloser Gottesdienst ist es, vor Gott,
dem Vater: für Waisen und Witwen in ihrer Not zu sorgen und sich unbefleckt von
der Welt zu bewahren.“ „Werdet Täter des Wortes…“- mein Mitfahrer nach
Jerusalem, der junge jüdische Soldat neben mir, hätte zugestimmt: das Judentum
ist Praxis. Ortho-Praxis, eine rechte Praxis, die sich in jeder Zeit, auch in
der Gefangenschaft, so gut es geht, an den Weisungen Gottes orientiert. Im
Blick sind dabei vor allem soziale Weisungen. Die schwächsten Glieder der
Gesellschaft waren zur Zeit Jesu und auch vorher: Waisen und Witwen. Sie hatten
keinen männlich-gesellschaftlichen Beschützer mehr. An das sozial-solidarische
Tun, an die Schwächsten der Gemeinschaft, erinnert der Jakobusbrief. Dabei
blickt er offenbar auf eine noch stark jüdisch geprägte Gemeinde - ganz in
biblisch-jüdischer Tradition. In ihren Gesetzen, Regeln und Satzungen soll die
Gemeinde nie die Schwachstellen der Gesellschaft vergessen. Bei sozialen
Ungerechtigkeiten und Belastungen waren es meist die Prophetinnen und
Propheten, die zum Widerstand und zur Bekehrung aufriefen. Sehr oft gerieten
sie dabei in Konflikt mit Priesterschaft im Tempel. Denn die Priester stellten
in der Praxis den Gottesdienst im Tempel an erste Stelle -
vor das soziale Tun an den schwächsten
Gliedern der Gemeinschaft. Aus ihrer Sicht musste Gott vor den Menschen die
Ehre gegeben werden. Die
wahren Hörer und Hörerinnen des Gottes-Wortes zeigen sich also dagegen im
rechten, im treuen Tun der Weisungen Gottes. Den noch stark judenchristlich
geprägten Gemeinden in der Frühzeit der Kirche war das sehr klar. Und die
Ältesten und Lehrer unter ihnen lehrten es genauso.
Musik4
David Orlowski Trio „Satin” (aus dem Album „Chronos“)
Etwas anders sah es in den Gemeinden mit einem hohen
nichtjüdischen Anteil aus. An vielen Stellen war nichtjüdischen Menschen die
jüdisch-religiöse Praxis unbekannt und fremd. So kam es in den Gemeinden mehr
und mehr zu heftigen Spannungen: Wie weit galten die Weisungen der Thora und
Ihre Auslegungen?
In ihren Speisegesetzen?
Bei der Beschneidung? Galt das alles auch für Nicht-Juden? In diesen
Auseinandersetzungen der jungen Kirche steht früh schon der Evangelist Markus -
abzulesen an der Weise, wie er Jesus auf die Orthopraxie-Diskussion, auf die
Fragen religiösen Tuns, reagieren lässt. Jesus erweckt im Markus-Evangelium
nahezu den Eindruck, die Fragen von „rein“ und „unrein“ seien ihm nicht so
wichtig: „Nichts was von außen in den
Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen
herauskommt, das macht ihn unrein.“ Und dann folgt eine
radikal-prophetische Rede: „Denn von
innen, aus den Herzen der Menschen kommen die bösen Gedanken, Unzucht,
Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid,
Lästerung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht
den Menschen unrein.“ (Mk 7,15–23)
Musik
5 David Orlowski Trio „Derwisch” (aus dem Album „Chronos“)
In der frühen, noch jungen Kirche sind sich zwei religiöse, ganz unterschiedliche-religiöse Kulturen begegnet: Eine jüdische und eine nicht-jüdische. Die Gemeinden mussten diese unterschiedlich-religiösen Kulturen in ihrer Praxis miteinander versöhnen. Sie haben es wohl nur für kurze Zeit geschafft. Da der nichtjüdische Anteil in den Gemeinden immer größer wurde, verlor jüdisches Leben in den christlichen Gemeinden immer mehr an Bedeutung. An den großen Glaubensbekenntnissen des 4./5. Jahrhunderts arbeiteten und formulierten keine judenchristlichen Bischöfe mehr mit, die in die rechte Praxis gedrängt hätten. Christsein bedeutete jetzt zuerst und vor allem Tun: Die richtige Glaubensformel zu kennen, das richtige Bekenntnis zu haben. Das genau aber verstand mein jüdischer Mitfahrer auf der Fahrt nach Jerusalem völlig anders. Adonai ächad! Gott ist Einer, sprich: Ein Einziger, fügen Rabbiner hinzu. Das war das ganze Glaubensbekenntnis. So einfach ist das. Darunter fing die von Gott und den Rabbinern gelehrte Praxis an – und darauf kam es ihm, dem jungen Juden, an. Doch dazu brauchte er das Milieu seiner ultraorthodoxen Familie und Gemeinschaft. Das wusste er auch. Denn außerhalb dieser Gemeinschaft musste er zu viele Kompromisse machen. Wir, heute, im Glauben als Individualisten erzogen, ob christlich, jüdisch, muslimisch, meinen mehr und mehr, die kirchliche oder die religiöse Gemeinschaft nicht mehr für unseren Glauben nötig zu haben. Aber mit unseren theologischen und religiösen Fragen stehen wir dann auch oft alleine da. Und das religiöse Leben „verdunstet“ (P.M. Zulehner).
Gebet: Gott, DU, schenke uns menschen- und religionsnahe Oasen. Wenn wir die Einsamkeit unseres Glaubens erfahren, wenn wir uns von unseren Kirchen, Synagogen oder Moscheen schmerzlich und oft mit guten Gründen getrennt haben, dann zeige uns ein Zuhause, in dem wir unbefangen unseren Glauben und unsere Sehnsucht zur Sprache bringen, feiern und sehr praktisch leben können: geschwisterlich und sozial.
Musik
6 David Orlowski Trio „Santa Fe” (aus dem Album „Chronos“)
Darin
gesprochen: Mein Name ist Wilhelm Bruners. Schon seit 15
Jahren lebe ich nicht mehr in Jerusalem, sondern wieder in Mönchengladbach, in
der Stadt von der Borussia, die einst als erste deutsche Mannschaft in Israel
spielte. Und so grüße ich Sie nicht vom Zionsberg, aber vom nahen
Mönchengladbacher Abteiberg aus und wünsche einen gesegneten Sonntag.