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Das Geistliche Wort | 11.07.2021 | 08:35 Uhr

Einer von uns

(Audio: Internetfassung mit lizenzfreier Musik)


Autor: Eine kleine Stadt. Nennen wir sie „Radebeken“. Sie liegt dort, wo die beiden großen Teile unseres Bundeslandes aneinander grenzen. Hier spielt die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte.

Radebeken hat eine evangelische Kirchengemeinde mit zwei Pfarrstellen. Die eine ist gerade neu besetzt worden. Eine junge Pfarrerin, Patrizia Heller. Alleinstehend. Engagiert. Voller Ideen. Ihr Amtsbruder ist schon lange am Ort verwurzelt. Bestens vernetzt. Er möchte der neuen Kollegin die Türen öffnen. Zum Beispiel bei der Sitzung des Karnevalsvereins. Der ersten nach dem Lockdown.
Sie kommt natürlich mit. Wenn auch mit gemischten Gefühlen. Auf was für Menschen wird sie treffen? Eine fest gefügte Welt, wie bei ihren Großeltern? Sind die Leute offen für die Fragen, die sie selbst beschäftigen? Sie lässt sich darauf ein. Macht Witze. Trinkt ein, zwei Bier. Und staunt über die Themen.

Im Mittelpunkt steht natürlich Corona. Die Freude, sich endlich wieder treffen zu können. Aber auch nachdenkliche Töne. „Frau Pastorin! Ob der ganze Schlamassel wohl eine Strafe Gottes ist? Ob der da oben dafür sorgen will, dass sich die Natur wieder von uns erholen kann?“ Es läuft gut. Sie entspannt sich. Bis sich ein leicht angetrunkener Karnevalist zu ihr neigt: „Na, meine Liebe. Haben Sie den Richtigen noch nicht gefunden?“ Also doch. Genau das hatte sie befürchtet. Aber sie traut sich nicht, Contra zu geben. Will nicht gleich auf ein Image festgelegt werden. Am liebsten möchte sie verschwinden. Sucht nach dem Kollegen. Aber der amüsiert sich gerade ganz prächtig. Ein Heimspiel. Mühelos trifft er den richtigen, lockeren Ton. Wieder neigt sich ein Karnevalist zur jungen Pfarrerin: „Ja, der Pastor Stübner. Das ist einer von uns. Der lässt auch mal fünfe gerade sein.“

Auf dem Weg nach Hause ist sie ratlos. Entmutigt. So läuft das hier also. Hat sie sich für den falschen Ort entschieden? Vielleicht sogar für den falschen Beruf? Selten hat sie sich so allein gefühlt.
Am nächsten Sonntag ist die Kirche gut gefüllt. Auch einige Karnevalisten sind da. Pastor Stübner predigt über Gottes Gnade. Auch nachdenkliche Töne schlägt er an. Über gute Vorsätze. Und wie wir immer wieder an ihnen scheitern. Und dass Gott uns dennoch Hoffnung gibt. Man spürt, auch jetzt denken die Leute: „Ja, der Pastor Stübner. Das ist einer von uns.“ Und lassen sich von seinen Worten berühren.

Musik 1: Broccoli Tempura; Interpret: Kitty, Daisy & Lewis; Label: Play it again Sam; LC: 07800












Autor: Die nächsten Wochen sind gut gefüllt. Patrizia Heller stellt sich in den Gruppen ihrer neuen Gemeinde vor. Hält ihre ersten Gottesdienste. Und immer steht Pastor Stübner neben ihr. Nicht wirklich. Aber in Gedanken. Sie arbeitet sich an ihm ab. An seiner Art, den Menschen nah zu sein. „Der Pastor Stübner. Das ist einer von uns.“ Ständig hat sie diesen Satz im Ohr. Sie spürt, wie er sie verunsichert. Wie sie selbst immer wieder denkt: „Aber ich bin anders.“

Auf der Seniorenfeier begrüßt er jede und jeden mit Namen. Mit dem Bürgermeister weiht er die neue Polizeiwache ein. Die Schützen berät er beim Corona-Schutzkonzept. Er bewegt sich wie ein Fisch im Wasser. Mal lustig. Mal staatstragend. Mal nachdenklich. Warum wurmt sie das? Ist sie eifersüchtig?

In Gedanken schreibt sie Listen. Was sie alles an Stübner nicht mag. Das geht schon bei der Kleidung los. Immer schön korrekt. Aber auch irgendwie modisch. Kein Aufreger und kein Langweiler. Er kennt die Fernsehstars und die Angebote beim Discounter. Macht Urlaub auf Malle und nennt das auch so. Natürlich fährt er einen SUV. Aber genau das Modell, das durch seine Größe noch keinen Anstoß erregt. Und so weiter.

„Der Pfarrer ist anders.“ Diesen Buchtitel hat Patrizia Heller noch aus dem Studium im Ohr. Nein, Pastor Stübner ist nicht anders. Er ist „einer von uns“. Aber ist das nicht gerade seine Stärke? Dass er sich nicht für was Besseres hält. Ist das nicht der Grund, warum die Leute Vertrauen zu ihm haben? Warum sie sich von ihm ansprechen lassen. Und zu ihm kommen, wenn sie Rat brauchen.

Heller versucht, ihre Gefühle zu sortieren. Ihre Gedanken. Wo liegt der Kern des Problems? Ist es wirklich Eifersucht? Nein, im Grunde ist da etwas Anderes. Hofft sie zumindest. Sie spürt: Eigentlich möchte ich ganz anders sein. Ich träume von einem anderen Leben. Diesen Traum habe ich von Jesus. Er hat oft von einem anderen Leben erzählt. Reich Gottes hat er das genannt. Es ist dort, wo Menschen liebevoll und verantwortlich leben. Ich möchte entdecken, was wirklich wichtig ist. Herausfinden, was mich frei macht. Was mir Lebensfreude gibt. Spüren, dass es mehr gibt als das, was man sehen und anfassen kann. Mehr als das, was sich gehört und was alle machen. Und ich möchte Menschen finden, mit denen ich diesen Traum teilen kann.


Musik 2: Till tomorrow, Interpret: Yello feat. Till Brönner; Komposition: Till Brönner & Boris Blank; Album: Touch Yello; Label: 2009 Yello, distributed by Polydor/Island, a division of Universal Music GmbH; LC 00309



Autor: Zum Knall kommt es im Presbyterium. Zehn Menschen, die in ihrer Freizeit die Gemeinde leiten. Für Pfarrerin Heller ist es die zweite Sitzung in Radebeken. Ein Punkt auf der Tagesordnung wirkte ganz harmlos: Kirmes. Die Stadt hat eine Anfrage an die Kirchengemeinde gestellt. Bei der nächsten Kirmes soll der neue Starscraper auf dem Kirchplatz aufgebaut werden.

Das größte Karussell. Die Attraktion der Kirmes. Extrem schnell. Extrem hoch. Extrem beleuchtet. Stübner ist begeistert. Was für eine Chance: Alle werden auf den Kirchplatz kommen. Wer sich traut, kann beim Überschlag das Kirchdach von oben sehen. Und die Fassade wird in stahlendes, buntes Licht getaucht.

Da platzt seiner Kollegin der Kragen: „Das Ding ist doch ein Dinosaurier. Völlig aus der Zeit gefallen. Wisst Ihr eigentlich, was das an Strom verbraucht? So was kann man doch heute nicht mehr unterstützen.“

Die Fronten stehen gegeneinander: Mitmachen und die Aufmerksamkeit nutzen. Oder ablehnen und Verantwortung beweisen. Ist der Rummel eine Chance für die Gemeinde? Sie könnte die Kirche öffnen und auf Besucher hoffen, die sonst keinen Fuß über die Schwelle setzen. Oder nutzen die Betreiber nur die idyllische Kulisse für ihr Geschäft?

Letztlich kreist die Diskussion um die ökologische Verantwortung. Gerade hat die Bundesregierung die Klimaziele verschärft. In diesem Jahrzehnt muss radikal umgesteuert werden, das ist allen klar. Muss die Kirche da nicht ein Vorbild sein? Und dann soll ausgerechnet der größte Energiefresser auf dem Kirchplatz stehen? Während andere Schausteller schon viel klimafreundlichere Angebote machen?

Stübner hält dagegen: „Wir dürfen auch nicht päpstlicher sein als der Papst. Die ganze Stadt freut sich auf die Kirmes, nach dem endlosen Lockdown. Die Jugendlichen sind ganz heiß auf den Starscraper. Was macht das mit unserem Image in der Stadt, wenn ausgerechnet wir dagegen sind?“

Heller denkt: Dieser angepasste Kerl. Bloß weil alle wieder denken sollen: Stübner ist einer von uns. Der gönnt uns unseren Spaß. Bei der Eröffnung fährt er sogar selber mit. Und in der Predigt am nächsten Sonntag hofft er nachträglich auf Gottes Pardon.

Sie sagt: „So können wir als Kirche nicht weitermachen. Wir stehen an einer Zeitenwende. Mit unserem Lebensstil fahren wir unsere Welt doch vor die Wand. Das muss ich Euch doch wohl nicht erklären. Mit den alten Rezepten kommen wir nicht weiter. Das gilt auch für die Kirche. Wenn wir nicht überzeugend für eine Umkehr eintreten, wer denn sonst? Unser Reden von Schöpfung und Verantwortung glaubt uns dann doch kein Mensch mehr. Wenn wir mitmachen, dann machen wir uns auch mit schuldig! Heute kann keiner mehr sagen: Das haben wir nicht gewusst. Schon bald gibt es nicht mehr genug Insekten. Das merken doch alle schon an ihren sauberen Windschutzscheiben auf der Autobahn. Selbst die weißen alten Männer in ihren SUVs.“
Das ist zu viel. Das Presbyterium schweigt betroffen. Und vertagt den Punkt auf die nächste Sitzung.


Musik 3: Vertical vision, Interpret: Yello feat. Till Brönner; Komposition: Till Brönner & Boris Blank; Album: Touch Yello; Label: 2009 Yello, distributed by Polydor/Island, a division of Universal Music GmbH; LC 00309

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Autor: Weißer alter Mann. Jetzt hat Stübner einen Satz im Ohr, den er nicht mehr los wird. Unverschämt. Über Jahrzehnte hat er sich seine Position aufgebaut. Kontakte geknüpft. Beziehungen gepflegt. Vertrauen erworben. Hätte er das geschafft, wenn er immer dagegen gewesen wäre? Als Weltverbesserer auf der Kanzel hätte er die Menschen garantiert nicht gewonnen.

Und doch arbeitet der Satz in ihm. Weißer alter Mann. Wie aktiv er immer noch ist, kann er an diesem Wochenende beweisen. Dann wird sein Motorradgottesdienst ins Netz gestellt. Auf Youtube. Mit tollen Kamerafahrten. Ein Hauch von Easy Rider. Stübner war immer stolz auf seine Cowboystiefel. Und auf seine Harley.

Im Filmgottesdienst ist er in seinem Element. Er spricht von seiner „Leidenschaft, die einfach nur Spaß bereitet. Keine Bereicherung für meinen Nächsten, noch für die Umwelt. Ganz sinnentleert. Einfach nur Spaß. Und dabei eine Möglichkeit, ganz intensiv den Moment zu erleben. Und die Freiheit. Die Lust an Gottes Welt.“

Die Bikergottesdienste bietet er schon seit Jahren an. Radebeken ist dafür wie geschaffen. Mittelgebirge. Gewundene Landstraßen. Zum ersten Mal wird er damit jetzt online gehen. Für die Produktion hat er einen Kumpel gewonnen. Ein richtiger Profi.

Am Abend checkt Stübner die Klicks. 350 Aufrufe. Dreißig Likes. Aber auch drei Daumen nach unten. Und ein Kommentar: „Habt Ihr die alten Knacker in dem Film gesehen? Auf den Motorrädern war doch keiner unter 50. Weiße alte Männer, die unsere Welt verpesten! Dislike!“

Stübner ist geschockt. Als erstes denkt er, der Kommentar käme von seiner Kollegin. Aber die Namensangabe passt nicht. Dann wird er melancholisch. Ist seine Zeit abgelaufen? Gehört er zum alten Eisen? Versteht er die Zeichen die Zeit nicht mehr? Die neue Generation?

Er will im Kontakt bleiben mit der Mitte der Gesellschaft. Aber – hat sich die Mitte vielleicht schon verschoben? Verantwortung für’s Klima. Fridays for Future. Greta Thunberg. Durch Corona ist das in den Hintergrund gerückt. Aber Stübner hat bei seinen Besuchen gemerkt, wie sehr das die Leute beschäftigt.

Er blättert in der Bibel. Wie oft in solchen Momenten. Am Anfang des Markusevangeliums liest er die Zusammenfassung von Jesu Botschaft: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium! Tut Buße. Das heißt: Ändert euer Denken. Kehrt um. Ändert euer Leben. Jesus meint: Jetzt ist das dran! Pastor Stübner liegt lange wach in dieser Nacht.


Musik 4: Vertical vision


Autor: Die nächste Sitzung des Kirchenvorstands rückt näher. Viele haben gemischte Gefühle. Das Gremium soll seine Entscheidungen einmütig treffen. Aber wo soll ein Kompromiss herkommen?

Im Vorfeld sucht Stübner das Gespräch mit der Kollegin. „Sag mal, die Stadtwerke bieten doch auch Ökostrom an. Was meinst Du? Wenn wir darauf bestehen, dass der Starscraper mit grünem Strom betrieben wird?“ „Ach, das nützt doch nichts,“ meint sie dagegen. „Stromverbrauch ist Stromverbrauch. Was das Monstrum frisst, steht woanders nicht mehr zur Verfügung. Und dann brauchen wir doch den Kohlestrom.“

Bei der Sitzung gibt es dann einen offenen Abtausch. Es ist zu spüren: Alle wollen einen gemeinsamen Standpunkt finden. Aber wo? Eine vorsichtige Stimme sagt: „Bei der Ökologie müssen wir ganz vorsichtig sein. Mit unserer eigenen Ökobilanz sitzen wir doch im Glashaus. Im Urlaub fliegen wir doch alle in den Süden. Und sind stolz auf unsere Bikergottesdienste.“

Pfarrerin Heller hält dagegen: „Ein Glashaus ist ein Treibhaus. Wer da drin sitzt, muss heute mit Steinen werfen. Wenn nur die etwas sagen dürfen, die ohne Fehler sind, dann wird nie etwas passieren.“

Und dann hat eine Presbyterin die zündende Idee. „Wisst Ihr was? Wir machen auf dem Kirchplatz ein eigenes Angebot. Und als Erstes starten wir einen Wettbewerb. Es ist ja noch genug Zeit bis zur Kirmes. Die Leute sollen selber vorschlagen, was auf dem Kirchplatz passieren soll. Einzige Vorgabe: Ein guter ökologischer Fußabdruck. Die beste Idee setzen wir dann um. Mit der ganzen Power, die unsere Gemeinde hat.“

Die Pfarrerin ist erleichtert. Und ihr Kollege auch. So kann die Kirche ein verantwortliches Zeichen setzen. Der Wettbewerb hat auch Pastor Stübner überzeugt. Nicht von oben herab. Sondern gemeinsam. Demokratisch. Und nebenbei wird dadurch sichtbar, was den Leuten eigentlich am Herzen liegt. In der nächsten Predigt wird er Werbung machen für dieses Projekt. Und das ganze Vertrauen einbringen, dass er genießt.

Nach der Sitzung kommt die Kollegin zu ihm. „Ein weißer Mann bist Du ja. Und auch nicht mehr der Jüngste. Aber ich glaube, ein weiser Mann bist Du auch.“ Er antwortet: „Und Du bist auch eine von uns. Spätestens, wenn die Kirmes startet.“

Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen Pfarrer Sven Keppler aus Versmold.

Musik 5: Broccoli Tempura, Interpret: Kitty, Daisy & Lewis; Label: Play it again Sam; LC: 07800.




Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

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