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Kirche in WDR 5 | 17.08.2021 | 06:55 Uhr
Gesichter
Guten Morgen!
Gesicht zeigen, das war in den letzten anderthalb Jahren nicht leicht. Bei fast allen Gelegenheiten liefen Menschen mit Masken herum. Mit selbstgenähten Alltagsmasken, mit FFP-2 oder OP. Ich war erst seit hundert Tagen Pfarrer in meinen beiden neuen Pfarreien, da fing das mit den Masken an. So konnte ich die Menschen nur schwer kennenlernen. Denn neben dem Namen brauche ich auch immer das Gesicht, sonst kann ich mir die Menschen nicht merken. Nur die Augen und die Stimme, der Gang und der Klang des Namens, das bleibt alles irgendwie unvollständig.
Ganz besonders schwer war für mich die Predigt. Ich spreche frei und schaue dabei in die Gesichter der Menschen. Normalerweise merke ich, ob sie innerlich mitgehen, ob sie ernst bleiben oder ein kleines Lächeln auf den Lippen haben, ob sie eine ironische Bemerkung verstehen oder mein Wort an ihnen vorbeigeht. Dann kann ich meine Worte spontan anpassen, damit sie auch ankommen. Dann kann ich einen Aspekt hinzufügen oder weglassen, je nachdem. Aber jetzt predige ich in Gesichter, die Masken tragen, und von denen ich nur anhand der Augen ahnen kann, was hinter der Stirn vor sich geht. Eine wirkliche Herausforderung, ich fühle mich ziemlich allein mit meinem Wort ohne den Blick der anderen.
Die Bibel erzählt, wie Moses die Zehn Gebote empfängt. Das Ganze wird verortet auf der Sinai-Halbinsel, auf dem Gottesberg Horeb. Er kommt ein erstes Mal mit den Zehn Geboten vom Gottesberg herunter. Das Volk hat aber nicht auf ihn gewartet, sondern ein Goldenes Kalb gegossen, das sie bereits anbeten. Moses ist entsetzt und wirft die Tafeln entzwei. Als er die Gesetzesstafeln ein zweites Mal empfängt, ist einiges anders. Das Volk hat nun auf ihn gewartet, es ist gespannt auf den Bund mit Gott. Das Gesicht des Moses strahlt, es ist kaum auszuhalten. Deshalb muss er sein Gesicht verhüllen (Ex 34,29-35). Im Kontakt mit Gott und den Menschen hat Moses eine ganz besondere Ausstrahlung.
Auch im Leben Jesu gibt es so ein Leuchten. Gleich drei Evangelisten erzählen im Neuen Testament, wie Jesus verklärt wird. Er nimmt drei seiner besten Freunde mit zu einem Bergerlebnis der besonderen Art. Ein Gipfeltreffen, das auf dem Berg Tabor in Israel verortet wird. Moses und Elias erscheinen, die Vertreter von Gesetz und Propheten. Plötzlich leuchtet das Gesicht Jesu, und seine Kleider sind weiß wie Schnee. Im Kontakt mit Gott und den Menschen gewinnt Jesus eine Ausstrahlung, die auf Ostern hinweist, auf das große Licht am Ende des Tunnels, auf das Leben nach dem Tod.
Für dieses Leben, also für die Ewigkeit, gibt es nur Bilder und Metaphern. Kein Mensch kann wissen, wie es einmal bei Gott sein wird. Wir können nur hoffen und zuversichtlich sein. Aber die Bilder haben es in sich. Menschen mit so genannten Nahtoderfahrungen sprechen häufig von einem großen Licht, das sie gesehen haben. Eine „glückselige Schau“ nennt der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin das Leben bei Gott: visio beatifica. Und in den Gebeten der Kirche ist immer wieder davon die Rede, dass wir Gott sehen werden „von Angesicht zu Angesicht“. Also so, wie er wirklich ist, auf Augenhöhe.
Ich wünsche uns allen, dass wir bald wieder Gesicht zeigen. Einander nicht nur die Stirn bieten, sondern uns wirklich sehen lassen können. Leben von Angesicht zu Angesicht, schon jetzt. Die Masken werden wohl nicht so schnell und nicht überall verschwinden, und sie haben ja auch etwas Gutes. Aber ganz und gar angesehen fühlen, wahrgenommen, mit allen Feinheiten der Mimik, mit einem Lächeln und mit Ausstrahlung, das wünsche ich mir.
Schauen Sie heute jemanden liebevoll an. Ich bin sicher: Auch Sie können sich sehen lassen. Und wenn Sie in den Spiegel schauen, dann sehen Sie einen Menschen, den Gott kennt und liebt – von Angesicht zu Angesicht.
Aus Ahaus grüßt Sie Pfarrer Stefan Jürgens.