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Sich berühren lassen

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Das Geistliche Wort | 19.09.2021 | 08:40 Uhr

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Sich berühren lassen

Musik 1: I want to hold your hand (Beatles)


I Want to Hold Your Hand (2015 Stereo Mix); Interpret: The Beatles; Komposition: Paul McCartney & John Lennon; Label: 2015 Calderstone Productions Limited (a division of Universal Music Group) / Apple Corps Ltd.


Autorin: Wann habe ich zum letzten Mal einem Menschen die Hand geschüttelt? Zur Begrüßung oder beim Abschied?
War es im Februar 2020? Oder im März, kurz vor dem ersten harten Lockdown?
Ich weiß noch, dass ein Freund schon damals die These vertrat: „Das Händeschütteln wird nach Corona in Deutschland nicht wieder kommen.“ - Eine These wie aus einer anderen Welt, dachte ich damals und wollte das nicht glauben.
Seitdem sind 18 Monate vergangen. Ich bin geimpft, enge Freunde und Verwandte umarme ich nun wieder. Aber kein einziges Mal mehr habe ich jemandem die Hand geschüttelt. Anfangs war es extrem ungewohnt. Meine Hand zuckte immer, wenn ich einem Gast die Tür geöffnet habe. Aber dann fiel es mir ein: Da war doch was, halt, stopp.


Sprecher: Das Händeschütteln ist eine sehr alte Geste.Schon im Neuen Testament wird erwähnt, dass dem Apostel Paulus zum Abschied in Jerusalem die Hand gereicht wurde. Das war ungefähr 50 nach Christus, zur Zeit des römischen Reiches, wo man das Händeschütteln auch als friedensstiftende Geste auf alten Münzen findet. Im Mittelalter machten die Menschen mit einem Handschlag deutlich, dass sie gerade keine Waffen tragen und mit friedlichen Absichten kommen. Den Nationalsozialisten allerdings war das Händeschütteln nicht deutsch genug. Sie propagierten den Hitlergruß: Man sollte „Heil Hitler“ rufen und dabei den rechten Arm schräg nach oben strecken. Kurz nach dem Krieg wurde der Hitlergruß verboten. Nach 1945 mussten sich die Deutschen also wieder umgewöhnen. Man kehrte zum Händeschütteln zurück. Politikerinnen und Politiker zum Beispiel posieren mit einem Handschlag vor den Kameras, um ihre gute Verbindung öffentlich sichtbar zu machen.

Autorin: Als ich klein war bekam ich den Handschlag schon sehr früh beigebracht: „Gib der Frau zur Begrüßung die Hand“…höre ich meine Eltern noch sagen. So richtig gerne und von Herzen habe ich das als Kind nur selten gemacht.
Aber das Händeschütteln war aus unserem Alltag in Deutschland nicht wegzudenken. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten andere Formen dazu gekommen sind, wie z.B. die Umarmung oder manchmal auch ein Küsschen auf die Wange.

Immerhin: Noch 2017 zählte der damalige CDU Innenminister Thomas de Maiziere den Handschlag in Deutschland zu den zehn wichtigsten Punkten einer deutschen Leitkultur: „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand,“ so de Maiziere damals. Undenkbar inzwischen. Mit der Pandemie war damit Schluss. Drei Jahre später. Von heute auf morgen. Ist das ein Verlust? Keine Berührung per Hand zur Begrüßung, zum Abschied? Weniger körperliche Nähe insgesamt? Weniger Sinnlichkeit?



Musik 1: I want to hold your hand (Beatles)


Autorin: Von Jesus wird berichtet, dass er Menschen oft berührte. Mit seinen Händen. Besonders dann, wenn er sie heilte. Nun können wir heute nicht mehr herauskriegen, ob Jesus wirklich Blinde geheilt und Tote auferweckt hat. Aber eines steht fest: Damals vor 2000 Jahren haben die Menschen diese Heilungsgeschichten für wichtig und bedeutsam gehalten. Sie haben sie überall weitererzählt und schließlich aufgeschrieben. Alle sollten wissen: So haben wir Jesus erlebt. Er hatte gute Worte für die Menschen, besonders für die Kranken und Schwachen. Und er hat ihnen oft die Hände aufgelegt. Worte und Berührungen, heilsame Berührungen.

Sprecherin: Jesus lehrte in einer der Synagogen am Sabbat. Und siehe, dort war eine Frau, die litt seit 18 Jahren an einem Geist, der sie schwach machte. Sie saß zusammengekrümmt und konnte den Kopf überhaupt nicht heben. Als Jesus sie sah, rief er sich zu sich und sprach zu ihr: „Frau, du bist erlöst von deiner Schwäche!“ Und er legte ihr die Hände auf und die Frau richtete sich sofort gerade auf und pries Gott.
(Lukas 13, 10 -13; BigS)


Autorin: Gute Worte sagt Jesus zu dieser Frau mit dem krummen Rücken, Worte, die sie stärken sollen: Du bist erlöst. Du bist befreit.
Er wendet sich ihr zu, er legt ihr die Hände auf, er bekräftigt seine Worte, indem er sie berührt. Als wollte er sagen: „Ich meine es ernst. Spürst du es, du kannst aufrecht gehen, du hast Zukunft.“
Offensichtlich verändert das die Frau. Solche Worte zu hören und dann auch die Hände von Jesus zu spüren, seine Wärme und Kraft, diese ganze Zuwendung – das ist heilsam.

Vor kurzem sah ich einen Film. Da war ein Neugeborenes zu sehen, das seine Augen geschlossen hat. Irgendwann hört man erst die Stimme seines Papas, dann seiner Mama und es blinzelt darauf hin immer ein wenig…mit einem Auge, das danach schnell wieder zufällt.
Schließlich streichelt die Mama es ganz vorsichtig mit ihrem Finger an der Wange.
Da öffnet es langsam beide Augen und dreht seinen Kopf in Richtung des Fingers. ---
Wir wissen, dass Neugeborene mit ihren Augen noch nicht richtig sehen können. Aber es war deutlich zu sehen, wie das Baby auf diese Berührung reagiert. Dass es den Kontakt sucht.

Wie wichtig ist das Berühren? Der Kontakt über die Haut. Mit den Händen? Für Kinder aber auch für Erwachsene, erst recht für Menschen, die krank oder geschwächt sind?


Musik 2: I want to hold your hand (Roger Cicero & After Hours)
Album: There I Go; Interpret: Roger Cicero & After Hours; Komposition: Lennon & McCartney; Label: 2005 JAZZsick Records


Sprecher: Die Haut ist das größte Organ von uns Menschen. Schon Ungeborene spüren es, wenn die Mutter ihren Bauch streichelt. Angenehme Berührungen machen Menschen glücklich. Ein Leben lang. Es heißt, dass dabei das Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird, das unseren Blutdruck senkt und uns entspannen lässt. Mehr noch: Dieses Hormon schützt vor Krankheiten, es vermindert Schmerzen und sorgt dafür, dass wir anderen Menschen vertrauen können. Angenehmer Körperkontakt lässt neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen, weshalb er für Kinder elementar wichtig ist. Ihr Gehirn wächst dabei, Kinder werden aktiver, kräftiger und klüger, wenn sie viele liebevolle Berührungen erleben.
Wissenschaftler haben das im Übrigen auch für Tiere belegt: Rattenbabys, die nicht abgeleckt werden nach der Geburt, verkümmern und sterben sogar.


Autorin: Alle Säugetiere, Menschen und ganz besonders die Kinder brauchen also Kontakt, mehr noch die direkte wohlwollende, zärtliche Berührung. Haut auf Haut. Wärme, Zuwendung insbesondere über die Hände. Sie muss aber freiwillig sein, niemand darf dazu gezwungen werden. Sonst kehrt sich alles um. Dann erleiden Menschen große Qualen, Gewalt an Leib und Seele.
Auch viele alte Menschen, die oftmals nicht mehr so viele Kontakte haben, wünschen sich Berührungen. Hände, die sie streicheln zusammen mit Worten, die ihnen guttun. Ein Klopfen auf die Schulter, einen Kuss auf die Wange, eine innige Begrüßung oder Verabschiedung.
Hat Corona uns verändert, vorsichtiger gemacht, ängstlicher?


Sprecher: „Halten Sie wenn möglich einen Abstand von ein bis zwei Metern zu anderen Menschen. Vermeiden Sie Berührungen und verzichten Sie auf Handschlag oder Umarmungen: Teilen Sie Gegenstände wie Tassen, Flaschen, Geschirr, Handtücher oder Arbeitsmaterialien wie Stifte nicht mit anderen Personen.“

https://www.dguv-lug.de/fileadmin/user_upload_dguvlug/DguvPlusPunkt/2020/02/Infografik_Infektionen_mit_Corona_vermeiden.pdf


Autorin: Das waren die Regeln, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit Beginn der Pandemie veröffentlichte. Viele Monate haben wir so gelebt. Jede Berührung, jeder Hautkontakt, jeder Handschlag: Eine Gefahr. Kinder durften ihre Großeltern nur von ferne sehen. Manche Geschwister haben aufgehört sich zu umarmen. Freundinnen und Freunde sowieso. Soll das so bleiben? Haben sich die Abstandsregeln vielleicht schon tief in unsere Körper gebrannt, so dass wir gar nicht mehr anders wollen – selbst wenn eines Tages wieder alles möglich ist? Dass wir Berührungen wie den Handschlag nicht mehr wirklich genießen können? Eine Freundin meinte kürzlich: Sie möchte nun dauerhaft mehr Distanz. Wenn man sich dadurch Keime vom Leib hält und weniger Erkältungen bekommt, dann findet sie das gut. Ich konnte ihr nicht unmittelbar zustimmen, ich muss darüber erst mal nachdenken.


Musik 3: I want to hold your hand (George Benson; instrumental)
Album: Guitar Man (Deluxe Edition); Interpret: George Benson; Komposition: John Lennon & Paul McCartney; Label: 2021 Craft Recordings., Distributed by Concord.


Autorin: Es gibt eine Geschichte in der Bibel, im Neuen Testament, an der wir ablesen können, wie kraftvoll, wie heilsam Berührungen sein können. Auch hier ist Jesus im Spiel. Wieder geht es um eine kranke Frau: Sie leidet seit12 Jahren an Blutungen im Unterleib. Blut ist Lebensenergie. Diese Energie fließt aus ihr heraus. Täglich. Ohne Unterlass.
12 Jahre Blutfluss, das bedeutet zusätzlich noch: Sie kann keine Kinder gebären. Was für ein Leid in vielerlei Hinsicht. Die Geschichte steht im Evangelium von Markus:


Sprecherin: „Da gab es eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt und von vielen Ärzten vieles erlitten hatte. Sie hatte ihr ganzes Hab und Gut eingesetzt und ihr war doch nicht geholfen worden. Stattdessen wurde ihre Krankheit immer schlimmer.
Sie hörte von Jesus, näherte sich in der Menschenmenge und berührte von hinten sein Gewand. Denn sie sagte sich: „Wenn ich ihn berühre und sei es nur sein Gewand, werde ich gesund werden.“ Im gleichen Augenblick hörte ihr Blut auf zu fließen und sie spürte an ihrem Körper, dass sie von ihrem Leiden befreit war. Gleichzeitig fühlte auch Jesus an sich, wie die Kraft aus ihm herausfloss, drehte sich in die Menschenmenge um und fragte: Wer hat mich am Gewand berührt?“
Markus 5, 25-30 (BigS)

Autorin: Hier kämpft eine Frau um Berührung. Sie drängt sich durch die Menschenmenge, die Jesus umgibt. Sie will Kontakt, sie braucht den Kontakt. Sie tut etwas, was wohl zu allen Zeiten viel Mut braucht: Sie berührt Jesus, um den sich alle scharren, an seinem Gewand, um auf sich aufmerksam zu machen. Von hinten. Plötzlich, in dem Augenblick, als diese Verbindung steht, hört ihr Blut auf zu fließen. Da endet etwas und es beginnt etwas Neues. Sie ist befreit von ihrem Leid. Mehr noch: Auch Jesus ist verändert. Spürt die Kraft dieser Verbindung. Da fließt etwas hin und her. Kraft, die von einer Person auf die andere übergeht. Und sofort verändert sich Leben. Zum Guten. Eine Wunde heilt. Wie schön beschreibt diese Geschichte das Potential der Berührung. Wärme, Kräfte, die fließen, mit denen wir uns gegenseitig guttun können. Die verändern, stärken und heilen.


Musik 3: I want to hold your hand (George Benson; instrumental)

Autorin: Die Neurologin Rebecca Böhme hat darüber geforscht, was für Auswirkungen es haben könnte, wenn wir in uns hier in Deutschland nach Corona insgesamt weniger berühren. Sie meint, „das kann negative Folgen für die Gesellschaft insgesamt haben. Denn wenn wir uns den anderen Menschen nicht mehr so nahe fühlen, dann fällt es uns auch schwerer, mit ihnen mitzufühlen.“

(zit. nach: https://www.swr3.de/aktuell/coronavirus/beruehrungen-waehrend-corona-100.html Vom 16.11.2020)

Vermutlich lassen sich viele Auswirkungen von Corona derzeit noch nicht mit Gewissheit
beschreiben. Ob es so kommen wird, dass weniger Berührungen uns auch weniger solidarisch machen – ich will es nicht hoffen. Manche Entwicklungen lassen sich ja auch schon länger beobachten: Forschungen zeigen, dass seit mindestens zehn Jahren ein Rückgang der Körperkontakte zu erkennen ist. Durch die Digitalisierung hat sich manches verschoben. Wir berühren zum Beispiel viel seltener einen Stift mit unserer Hand, um kunstvolle Buchstaben, Worte, Sätze und Briefe zu schreiben. Stattdessen hauen wir in doch sehr einlinigen Bewegungen auf Tasten herum und wischen auf dem Handy von einer Seite zur nächsten. Ist das der Trend: Streicheln wir lieber Bildschirme als Menschen? Berühren wir lieber Tiere, Kaninchen, Katzen oder Hunde anstelle von Freundinnen und Freunden? Wird nicht zuletzt das Händeschütteln komplett aus unserem Alltag verschwinden?


Musik 2: I want to hold your hand (Roger Cicero & After Hours)


Autorin: Inzwischen weiß ich, was ich meiner Freundin antworten werde. Wenn sie bei ihrer Haltung bleibt, außer ihren allerengsten Verwandten keinen mehr berühren zu wollen, um jede Ansteckung zu vermeiden, dann widerspreche ich ihr. Für mich sehe ich das anders:
In der biblischen Geschichte berührt eine Frau, die 12 Jahre an Blutfluss litt, Jesu Gewand. In demselben Augenblick spürte sie, dass etwas Neues beginnt. Und Jesus spürt das auch: Da fließt etwas Gutes, etwas Heilsames hin und her zwischen uns Menschen, wenn wir einander berühren. Freiwilligkeit und Wohlwollen immer vorausgesetzt.

Vielleicht sollten wir uns alle etwas Zeit geben, Corona-Ängste zu überwinden, wenn die Entwicklung der Pandemie das zulässt. Und vielleicht auch noch genauer in uns hinein spüren: Was passt jetzt…zu meinem Gegenüber und zu mir? Welche Worte, welche Geste?
Eine neue Achtsamkeit – das wäre ein guter Schritt.
Wie schön ist die innige Umarmung eines Freundes, den ich lange nicht gesehen habe? Oder ein Kind, das mir auf dem Bahnsteig stürmisch in die geöffneten Arme läuft? Und wie gut tut es, fest gedrückt zu werden, wenn man traurig ist oder ausgelassen miteinander tanzen zu können? Denn so zeigt sie sich: Unsere Freude, unsere Anteilnahme, unsere Lebensenergie und Kraft. Auf das Händeschütteln kann ich als Deutsche gut verzichten, das tun andere Kulturen ja auch. Aber auf ehrliche und einvernehmliche Berührungen möchte ich als Mensch mit Haut und Haaren nie verzichten. Sie sind nicht nur heilsam, sondern einfach auch zu schön.

Einen guten Sonntag wünscht Ihnen Antje Rösener aus Hattingen.


Musik 4: Get here (Nils Landgren)

Album: Eternal Beauty (feat. Michael Wollny, Lars Danielsson, Johan Norberg & Rasmus Khilberg); Interpret: Nils Landgren; Komposition: Brenda Russel; Label: 2014 ACT Music + Vision GmbH & Co. KG



Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth


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