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Das Geistliche Wort | 14.11.2021 | 08:40 Uhr
Flucht in die Sicherheit. Angekommen – Willkommen?
Taiba ist ihr Name. Sie war meine Schülerin am Emschertal Berufskolleg in Herne, wo ich Deutsch und katholische Religion unterrichte. Sie hat im Sommer ihr Fachabitur gemacht. Taiba kam im Jahr 2016 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern aus dem Irak nach Herne. Da sprach sie noch kein Wort Deutsch. Von ihr und ihrer Geschichte als Flüchtling will ich erzählen. Guten Morgen!
Musik I: Saad Tamir “Rastlos“, aus: Lagash unterwegs – neue Musik aus Mesopotamien. El Hanaa Musik
Taiba kann Auftritt. Bei unserer ersten Begegnung in der Schule vor zweieinhalb Jahren tritt sie zielsicher, fast stürmisch auf. Sie hat ein Bündel von Fragen im Gepäck, Zettel und Stift in der Hand, alles muss sie notieren und sortieren. „Wenn ich das Fachabi habe, kann ich danach mein richtiges Abi machen, wann muss ich mich für‘s Studium anmelden und wo beantrage ich das Schokoticket.“ „Mal ganz langsam“, sage ich, „also Fachabi, ist realistisch, bedeutet zwei Jahre harte Arbeit.“ „Das kann ich, ich kann arbeiten.“ Im Nu legt sie mir ein Bündel von Anträgen, Formularen vor. Ich blicke kaum durch den Papierwust. Taiba erklärt mir, was ich tun muss. So beginnt unsere Geschichte.
Sie kommt in meine Klasse und wird mit der prallen Realität Herner Jugendlicher konfrontiert: lackierte Fingernägel, viel Jogginghose und weite Ausschnitte. Sie scheint aus einer anderen Welt zu kommen. Dezentes Kopftuch, langärmelige Bluse und ein zurückhaltender und neugieriger Blick. Sie will dazugehören, das klappt nicht so ganz, da ist viel Nichtverstehen, auf beiden Seiten. Doch die Mitschüler und Mitschülerinnen sind neugierig: „ein echter Flüchtling, mit Schleppern und Boot, fast untergegangen, was ‘ne geile Story“, erzähl mal. Taiba schweigt, sie kann ihre inneren Bilder nicht in Sprache fassen. Ihr Blick wird traurig.
Dann bei der Klassenfahrt in München kippt der Schalter. Sie erinnert sich: Im Januar 2016 ist sie dort angekommen nach Wochen der Flucht, am Ende ihrer Kräfte, verdreckt, im Gepäck nur die Erinnerung an ihre Heimat und den weinenden Geschwistern an der Hand. Taiba traut sich zu erzählen.
Mossul im Nordwesten des Irak, das ist ihre Heimat. Wer Mossul hört, hört die Verzweiflung, die seit sieben Jahren diese Stadt bestimmt. Mossul mit seinen 2,9 Millionen Einwohnern ist die größte Stadt in der Hand des IS. Die Terrorgruppe des Islamischen Staates wütet gnadenlos. Die irakische Armee fürchtet sich vor diesen Männern des Hasses und der Zerstörung. Und sie wagt nicht, gegen die Terrororganisation vorzugehen. Die Bevölkerung ist dem IS ohne Schutz ausgesetzt. Tausende Zivilpersonen werden durch Selbstmord- und Bombenanschläge getötet, Schutzgelderpressungen sind keine Seltenheit mit Anwendung von Folter und mit Todesfolgen. Der IS kennt kein Erbarmen. Die Stadt lebt in einem Zustand ständiger Angst. Die Märkte sind geschlossen, Leben findet nur noch hinter verschlossenen Türen statt. Es herrscht Ohnmacht, das Gefühl, dass die staatlichen Vertreter die Stadt aufgegeben haben. Der Staat hilft nicht. Jeder Tag der vergeht, ohne dass Hilfe kommt, bedeutet mehr Hunger, mehr Zerstörung von zivilen und sozialen Einrichtungen.
Musik II: Saad Tamir “Al-Qafila“, aus: Lagash unterwegs – neue Musik aus Mesopotamien. El Hanaa Musik
Taiba kommt aus dem Irak und erzählt von ihrem Zuhause und ihrer Familie in Mossul, von der Zeit vor der Flucht: Der Vater führt ein gutgehendes Reiseunternehmen. Sie haben ein schönes großes Haus. Dieses Haus mit dem blühenden Garten war Schutzraum des Glücks für die Eltern und die 5 Kinder. Die Kinder gehen zur Schule, Mädchen wie Jungs, da gibt es keinen Unterschied. Lernen ist wichtig, da wird wert draufgelegt. Besonders die drei Mädchen werden motiviert fleißig zu sein, sich nicht abhängig machen zu müssen von einem Mann. Taibas Elternhaus ist Begegnungsstätte für alle, die zur Familie gehören: Großeltern und unzählige Tanten und Onkel mit ihren Kindern. Da sind schnell 100 Leute zusammen. Das geht, das ist kein Problem – auch nicht wenn gefeiert wird. Da wird aufgefahren, Tage vorher gekocht und die Tanten bringen auch immer was Leckeres mit: Der Geruch der Gewürze, der Duft der verlockenden Speisen, das ist Wohlgefühl, das ist Heimat. Taiba kommt regelrecht ins Schwärmen. Sie erzählt: Vor allem dann, wenn alle zusammen sind werden Geschichten erzählt, Verbindungen geknüpft, Absprachen getroffen. Das muss so sein, ohne die Familie kommt niemand zurecht. „Immer nach dem Anderen fragen, wie es ihm geht und dann helfen und dann gibt es eine Belohnung von Allah“, so heißt es.
Dann aber. Das Schicksal schlägt zu. Ein naher Verwandter wird kurz vor seiner Hochzeit entführt. Er hat sich kritisch über den IS geäußert. Zuerst wird seine Familie erpresst: Der IS will Geld gegen das Leben des Entführten. Die Familie zahlt. Der IS nimmt das Geld und tötet doch. Später wird die Leiche gefunden. Nicht nur Taibas Familie ergeht es so. Viele Familien werden zu Opfern einer willkürlichen Herrschaft. Das zeigt sich auch an dem Belagerungszustand: Rund um die Häuser der Familie sind die Scharfschützen des IS. Niemand traut sich, die Häuser zu verlassen. Es herrscht Hunger unter den Belagerten. Es gibt kein Wasser und keinen Strom. Die Kinder können nicht mehr zur Schule. Wer sich dennoch auf die Straße traut, steht in der Gefahr, geschlagen oder getötet zu werden. Die Frauen, die sich heraustrauen, werden auf der Straße geschlagen. Niemand ist vor dem anderen sicher. Niemand der mitgenommen wird, kommt je wieder.
Für die gesamte Familie von Taiba heißt das: Gefahr! Auch ihr Haus wird geplündert. In Mossul sind sie nicht mehr sicher. Sie verlassen ihr Zuhause und fahren nach Bagdad. Da leben Verwandte und sie werden aufgenommen. Sie sind zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Bagdad ist noch sicher vor dem IS, da herrscht noch die staatlich irakische Hand.
Taibas Vater ist ein wacher politischer Geist. Und er ist kritisch. So weiß er auch von Menschenrechtsverletzungen durch den irakischen Staat. Ja auch die irakische Regierung foltert und misshandelt, erzwingt Geständnisse. Taibas Vater protestiert gegen die Willkür des Staates, gegen das Verbot einer kritischen Berichterstattung der Medien. Auf einer Demo wird er erkannt und muss um sein Leben und das der Familie fürchten. Der Aufenthalt in Bagdad dauert nur ein Jahr. Eine schnelle Entscheidung wird gefällt. Der Vater taucht unter, die Mutter flieht mit fünf Kindern – ins Ungewisse, ihr Begleiter: die Angst vor dem Tod. Sie quälen sich durch Meere, Wälder und Felder, geben fast auf. Der Tod scheint über Tage eine bessere Alternative zum Leben. Doch die Mutter gibt nicht auf, sie gehen zusammen weiter … und sie kommen an, in Herne-Wanne! Mitten im Pott. Hier endet ihre Flucht. Hier beginnt ein neues Leben.
Musik III: Charlie Mariano “Silk”, aus: Charlie Mariano, Jasper van’t Hof, Marilyn Mazur “Innuendo”, Lipstick Records
Taiba ist mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Deutschland angekommen, als Flüchtlinge in der Fremde. Als sie ihre Geschichte erzählt frage ich mich: Geht das eigentlich, mitten in der Fremde Heimat zu finden, sich einer neuen Welt zugehörig zu fühlen? Viele Menschen, die eine Flucht erlebt haben berichten, sich keine Erlaubnis zu geben, in der Fremde bleiben zu dürfen. Sie haben Angst, ihre alte Heimat im Inneren zu vergessen. Sie sagen sich: “Gewöhn dich nicht an das Leben hier. Denn wenn du das tust, vergisst du deine Herkunft, deine Geschichte, dann verblassen die Gesichter deiner Lieben.“
Taiba aus dem Irak kennt das Problem: Wie die Vergangenheit mitnehmen in das neue Leben hier, in Deutschland, in Wanne? Wie die Brücke bauen zwischen dem, was war, was zu ihr gehört und dem was hier in Deutschland Neues passiert? Das ist die Herausforderung ihres Lebens. Es ist die Herausforderung von so vielen Menschen – nicht nur heute, sondern in der Menschheitsgeschichte
Vor gut drei Wochen veröffentlichten die christlichen Kirchen ein Papier zum Thema: “Migration menschenwürdig gestalten“. Mich hat an diesem Papier beeindruckt, dass die Bibel darin beschrieben wird als Migrationsliteratur. Die biblischen Texte laden ein über das Gemeinsame von Migranten und uns allen nachzudenken. Über die Bedeutung von Gerechtigkeit, dem würdevollen gemeinsamen Umgang und der Überwindung des Freund-Feind-Denkens. Mir fällt dazu die biblische Geschichte von Rut und ihrer Schwiegermutter Noomi ein. Sie liest sich wie eine Vorlage für das, was Taiba erfahren hat.
Noomi ist mit ihrem Mann und ihren zwei Jungs aus Bethlehem in Judäa geflohen, es gab da nichts mehr zu Essen, die Lage war unübersichtlich. Also Flucht in das Grünland Moabs. Das ist schon nicht einfach. Da sind Menschenmengen auf der Flucht, viele Familien suchen die Sicherheit im Ausland. Sie kommen als Fremde in der Fremde an. Einleben, arbeiten und sich irgendwie zurechtfinden. Dann großes Schicksal. Noomis Mann stirbt, die beiden Söhne heiraten moabitische Frauen, also Frauen, die einen anderen Glauben und Kultur haben und dann sterben auch die Söhne. Zurück bleibt Noomi mit ihren Schwiegertöchtern. Noomi hat eine innerliche Größe. Sie liebt ihre Schwiegertöchter. Sie trauern gemeinsam um den Verlust der Söhne und Männer. Noomi, inzwischen alt, sehnt sich nach ihrer Heimat zurück, nach Juda. Sie will dort ihren Lebensabend verbringen und begraben werden. Es heißt wieder Abschied zu nehmen. Und das ist auch nicht so einfach, denn auch in der Fremde gibt es Menschen, die zu Noomi gehören: das sind ihre Schwiegertöchter. Eine von ihnen, Rut, will unbedingt mit ihr gehen. Das ist bemerkenswert. Denn jetzt verlässt Rut ihre Heimat Moab und geht als eine junge Frau freiwillig mit ihrer alten Schwiegermutter in deren Heimat nach Juda zurück. Eine Art Heimatwechsel. Das scheint auch nur zu gehen, weil Beziehung da ist, Wertschätzung und Vertrauen.
Musik IV: Jasper van’t Hof “Embrace”, aus: Charlie Mariano, Jasper van’t Hof, Marilyn Mazur “Innuendo”, Lipstick Records
Noomi und Rut – zwei Flüchtlinge, die das Alte Testament beschreibt. Die beiden ziehen los, die Flucht aus der Heimat und zugleich in die Heimat. Das ist nicht einfach. Sicherlich stellen sie sich Fragen: Heißen sie uns in Bethlehem, in Juda willkommen? Wie verhalten sich die Einheimischen der Fremden Rut gegenüber? Gibt es eine Zukunft für die junge Witwe? Diese aber weiß, dass sie sich nicht verstecken darf. Sie will arbeiten, um nicht abhängig zu werden. Sie bekommt eine Art Arbeitserlaubnis. Sie darf bei der Gerstenernte hinter den Erntehelfern gehen und auflesen, was übrigbleibt. Das tut sie, zurückhaltend, den Kopf nach unten, sie ist schüchtern, versteht die Sprache nicht, spürt die Blicke der anderen, hört ihr Getuschel: „Was will die denn hier?“ „Wir haben doch selbst nicht genug!“ „Wenn sich hier jeder einschleichen würde, wo kämen wir denn dann hin?“ „Die hätte mal lieber in Moab bleiben sollen.“ Rut tut so, als ob sie die Feindseligkeit nicht spürt, arbeitet unauffällig weiter.
Schließlich passiert etwas Ungeahntes. Der Großgrundbesitzer Boas, auf dessen Feldern Rut arbeiten darf, sieht sie. Er ist angerührt von ihrer Verletzlichkeit, ihrer Zurückhaltung und sicher auch von ihrer Schönheit. Natürlich hört er das Getuschel seiner Mitarbeiter. Er schimpft sie aber nicht aus, er weiß, die Angst vor Fremden hat immer etwas mit der eigenen Unsicherheit zu tun. Daher gibt er seinen Mitarbeiter Sicherheit. Er weist sie ganz klar an, wie die fremde Frau zu behandeln ist: Sie darf von keinem seiner männlichen Mitarbeiter angefasst werden, die angestellten Frauen werden dazu verpflichtet sie fürsorglich und achtsam zu behandeln, ihr Wasser und Essen zu geben und immer zu gucken, ob es ihr gut geht. Für mich ist Boas eine Art Integrationshelfer. Er hat keine Angst vor Menschen mit anderer Religion, anderem Aussehen und Sprache. Da Boas ein einflussreicher Mann ist, kann er seinen Mitarbeitern sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Begegnung mit der fremden Rut in Achtsamkeit und Fürsorge. Was für eine Haltung damals im biblischen Geschehen – und gültig bis heute.
Musik V: Charlie Mariano “Dorothee”, aus: Charlie Mariano, Jasper van’t Hof, Marilyn Mazur “Innuendo”, Lipstick Records
Zurück zu den Flüchtlingen von heute, zurück zu Taiba und ihrer Familie. Sie leben in zwei Welten. Mutig und entschlossen, hier in Deutschland ein Zuhause aufzubauen. Die Kinder gehen selbstständig ihren Weg. Manchmal ist das Herz schwer wie Blei, das Heimweh zieht sich durch ihr Leben. Hier in Herne-Wanne werden sie immer ein bisschen fremd bleiben. Die Menschen hier, sagt sie, sind ihr alle freundlich begegnet, haben ihr den Start erleichtert. Taiba selbst ist da zuversichtlich. Sie kann durch ihre Offenheit Beziehungen mit Menschen gestalten, verbindet die Welten miteinander und hat keine Angst, hier zu bleiben.
Ankommen und willkommen sein gelingt in der Offenheit der Begegnung. Das jedenfalls zeichnet nicht nur die biblische Geschichte von Rut, Noomi und dem fürsorglichen Boas aus. Es ist eine Botschaft durch die Jahrhunderte bis heute auch an uns: Vorbildlich zu sein im Umgang mit Fremden, einzustehen für eine wertschätzende Kommunikation und einfach neugierig zu sein auf das Leben von Menschen aus den verschiedenen Welten, die doch letztlich nur eine Welt ist.
Es grüßt Sie herzlich Barbara Mikus-Boddenberg aus Essen
Musik VI: Charlie Mariano “Innamorta”, aus: Charlie Mariano, Jasper van’t Hof, Marilyn Mazur “Innuendo”, Lipstick Records