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Kirche in WDR 5 | 23.11.2021 | 06:55 Uhr

Trauer-Schreibarbeit

„Dies ist keine Biographie.“ (S. 88). Das weiß die Autorin. Was es aber sonst ist – da ist die Autorin Annie Ernaux selbst unsicher. Ihr Buch nennt sie schlicht „Die Frau“. Doch die französische Autorin erzählt nicht von irgendeiner Frau. Sie schreibt über ihre Mutter. Anlass ist deren Tod.

Auf den ersten Seiten ihres Buches schildert die Autorin die Umstände des Todes. In knappen Sätzen beinahe nüchtern und sachlich. Die Tochter funktioniert. Schließlich gibt es nach dem Tod eines Menschen viel zu erledigen und organisieren. Die Auflösung des Zimmers und natürlich die Beerdigung. Die Mutter ist schon lange verwitwet. Und sie selbst ist das einzige Kind.

Am Anfang drängt die Autorin ihre Gefühle zurück. Bis es dann irgendwann nach der Beerdigung aus ihr herausbricht. Bei allen möglichen Gelegenheiten kommen ihr Tränen. Keine Nacht, ohne dass sie von ihrer Mutter träumt. Jetzt versteht sie auf einmal, dass ihre Mutter tot ist und nie mehr wiederkommen wird. Dadurch fühlt sich die Autorin orientierungslos. Beim Zubereiten des Gemüses bringt sie die Reihenfolge durcheinander. So sehr beschäftigen sie Gedanken um ihre tote Mutter. Nun bricht sich die Trauer Bahn.

Die Autorin Annie Ernaux findet einen Weg, um mit der Situation und dem Verlust fertig zu werden. Sie beginnt, über ihre Mutter zu schreiben. Es ist für sie die beste Möglichkeit, sich mit ihrer Mutter, mit deren Leben und Sterben, auseinanderzusetzen. Sie übt sich ein in das Loslassen. Und dabei schont sich die Autorin nicht, wenn sie über ihre Beziehung zu der Mutter schreibt. Das scheint sie viel Kraft zu kosten. Es ist halt Trauer-Arbeit. Eine Trauer-Schreibarbeit.

Annie Ernaux schildert Herkunft und Kindheit ihrer Mutter. Sie arbeitet damit ihre Familiengeschichte auf und spürt dabei, wie sehr sie diese geprägt hat. Ihre Mutter stammt aus einem Dorf in der Normandie. Ich erfahre von ihren guten Schulnoten, aber auch von mangelnder Förderung. Denn die Mutter muss mit zwölf Jahren die Schule verlassen. Das nagt an ihr, denn ihr ganzes Leben strebt sie danach, gesellschaftlich aufzusteigen. Ihr gelingt es, sich durch harte Arbeit den Traum eines eigenen Lebensmittelladens zu erfüllen. Doch die Mutter muss auch mit Schicksalsschlägen zurechtkommen: Sie verliert das erste Kind. Und sie muss auch Jahre später ihren Mann beerdigen. Die Autorin versteht im Nachhinein besser, warum ihre Mutter für sie, die zweite Tochter, alles ihr Mögliche getan hat. Auch wenn dabei wohl manches falsch lief.

Mich bewegt, wie Annie Ernaux dann über die Erkrankung der Mutter schreibt. Sie leidet an Demenz. Die Mutter verändert sich, bekommt vieles nicht mehr mit. Die kleinen Verluste im Leben summieren sich. Und es fällt der Autorin nicht leicht, nun in die Selbständigkeit der Mutter einzugreifen. Sie beschreibt, wie es auf das Lebensende der Mutter zugeht, das trotzdem plötzlich kommt, obwohl sie es vielleicht hätte ahnen können.

Als sie zu ihrer toten Mutter ins Altenheim gerufen wird, legt die Tochter das Spitzennachthemd heraus, das die Mutter selbst als Leichenhemd ausgewählt hat. Weil ihre Mutter ihr Leben lang zur Messfeier in die Kirche gegangen ist und viel gebetet hat, holt sie das Kreuz aus der Nachttischschublade, um es ihr auf die Brust zu legen. Und sie beschreibt, wie gut ihr bei der Totenmesse der Gesang, die Worte und Gesten in der Kirche tun. Der Priester spricht vom ewigen Leben und von der Auferstehung. Und sie wünscht sich, es möge immer so weitergehen. Es bleibt für mich offen, wie sie das genau meint. Jedenfalls spürt die Tochter, dass sie mit diesem christlichen Ritual noch etwas Gutes für ihre Mutter tun kann.

In meinem Beruf setze ich mich viel mit Trauerarbeit auseinander. Vielleicht gefällt mir deshalb dieses Buch. „Die Frau“ heißt es ja. Denn Annie Ernaux versucht, mit dem Tod eines nahestehenden Menschen zurechtzukommen – durch eine intensive Trauer-Schreibarbeit.

Aus Köln von der Fachstelle Trauerpastoral und Bestattungskultur im Erzbistum grüßt Sie herzlich – Eva-Maria Will.

………………………..

Annie Ernaux, Die Frau. Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel „une femme“. Erste Auflage Berlin: Suhrkamp 2019, 2. Auflage 2020).

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