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Das Geistliche Wort | 16.01.2022 | 08:40 Uhr

Zeugnis geben

Zeugnisse sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits sind sie hilfreich, zeigen Stärken und Schwächen auf und sind so eine gute Grundlage, um mich selber oder auch andere besser einzuschätzen. Sie können sogar dazu beitragen, dass ich Fortschritte mache, dass ich mich weiterentwickele. Und gerade positive Einschätzungen tun einfach gut. Andererseits gibt es auch vernichtende Zeugnisse, die mich einfach nur verletzen. Dann möchte ich mich am liebsten zurückziehen. Und ich weiß, dass das anderen genauso geht. Aber Zeugnisse gibt es nun mal und sie sind immer zweischneidig. Das weiß ich nur zu gut, weil ich Religionslehrer und Schulseelsorger bin an einem katholischen Gymnasium in Duisburg. Und in wenigen Tagen gibt es Halbjahreszeugnisse. Ich heiße Hermann-Josef Grünhage und brüte seit Tagen über den Noten für meine Schülerinnen und Schüler – guten Morgen.

Musik I: Herbie Hancock, Secrets: Cantalope Island

Zeugnisse sind ein zweischneidiges Schwert. Gerade jetzt in der Schule kurz vor dem Halbjahreswechsel mit den Halbjahreszeugnissen wird mir das wieder bewusst. Für mich ist nämlich die Zeit vor der Zeugniskonferenz immer eine schwierige Zeit. Dann muss ich Noten geben und das ist total stressig. Ich muss mich entscheiden: Soll ich Kai wirklich eine Zwei geben oder: Hat Vanessa eine fünf verdient? Es ist schwierig – aber nicht nur für mich: problematisch ist es auch für einige Schülerinnen und Schüler – vor allem, wenn der Blick schon weiter geht auf das Schuljahresende. Beim Halbjahreszeugnis ist eine schlechte Note vielleicht nicht ganz so dramatisch, aber am Schuljahresende? Bei dem Zeugnis entscheidet sich ja oft einiges mehr: Kann ich auf der Schule bleiben, werde ich versetzt oder muss ich eine andere Klasse besuchen? Habe ich durch eine schlechte Note weniger Punkte für das Abitur und kann ich dann noch das Fach studieren, das ich gerne möchte? Die Situation ist für so manche Schülerin und Schüler eine große Last und ruft Ängste hervor. Ja, manche stellen sich angesichts ihres schlechten Zeugnisses sogar eine ganz grundsätzliche Frage: Was bin ich eigentlich wert? Ich weiß natürlich auch, dass viele umgekehrt auch stolz auf ihre Leistungen sind. Für sie ist das Zeugnis ein Zeichen für ihren Erfolg.

Ich als Lehrer bin mir meiner Verantwortung bewusst, dass meine Zeugnisnoten für die Schülerinnen und Schüler mal Frust und mal Freude auslösen. Denn einerseits muss ich die objektiv erbrachten Leistungen bewerten und wenn Kai sich halt mehr beteiligt hat als Vanessa, dann muss das auch in der Note Niederschlag finden. Es geht da um Gerechtigkeit. Andererseits muss ich mich aber auch fragen: Wie gehe ich denn wertschätzend mit der Schülerin um? Berücksichtige ich nur die Leistungen oder nehme ich auch die ganze Persönlichkeit in den Blick? Berücksichtige ich zum Beispiel, dass eine Schülerin grundsätzlich ein stiller Mensch ist – und lasse ich das in die Notengebung miteinfließen? Ich kann Noten ja auch so geben, dass sie motivieren, dass sie anspornen zu mehr Leistung. Gerechtigkeit und Wertschätzung, das sind für mich Eckpfeiler bei der Notengebung und wenn das in das Zeugnis miteinfließt, dann ist es gut.

Musik II: Pat Metheny, Works: Travels

Wertschätzung bei der Notengebung. Kann das überhaupt gelingen? Interessant wird es, wenn ich mit den Schülerinnen und Schülern ihre Note bespreche. Manche versuchen dann mit mir zu verhandeln, um noch irgendetwas für sich herauszuholen. Viele allerdings sagen – und das beruhigt mich dann: Ja das stimmt. Wenn ich alles so zusammenfasse, passt die Note. Manchmal braucht es aber nach der Zeugnisausgabe lange Gespräche, um gerade die Frustrierten neu zu aufzurichten. Aber ich bin davon überzeugt: Letztlich trägt die Notengebung zu einer besseren Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler bei. Und das ist hilfreich, sich selbst im Leben zurechtzufinden: Denn auch ich brauche eine Rückmeldung, damit ich mich besser einschätzen kann, damit ich an mir arbeiten kann, damit so mein kritisches Selbstbewusstsein wächst.

Wenn ich zum Beispiel zurückblicke auf die Zeit, als meine Frau und ich unsere Kinder erzogen haben – gut, die sind nun alle erwachsen und haben selber Kinder –, da war es ja genauso: Wir haben versucht, klare Rückmeldungen zu geben, Grenzen aufzuzeigen, damit die Kinder zu Persönlichkeiten reifen konnten. Und ganz wichtig: Wir haben versucht immer wohlwollend mit unseren Kindern umzugehen. Übrigens zu einer Persönlichkeit werden, das heißt für mich: Reflektierte Meinungen entwickeln, besser noch: Haltungen entwickeln, für die ich dann auch selber einstehe – dass ich also von meiner Haltung Zeugnis geben kann. Und da ändert sich die Perspektive: So kann jede und jeder einzelne dann von demjenigen, der Zeugnisse erhalten hat, zu dem werden, der selber Zeugnis gibt von dem, was ihm wichtig ist. Und dazu muss man nicht Lehrer sein.

Etwas anders formuliert: Um Haltungen oder einen klaren Standpunkt entwickeln zu können, den ich selber vertrete, muss ich selber Grenzen erfahren haben. Und das ist ein lebenslanger Lernprozess.

Wir haben in unserer Schule derzeit Probleme mit Schmierereien von Hakenkreuzen und judenfeindlichen Parolen. Das stellt das ganze Kollegium vor ein Problem. Wie sollen wir reagieren, einmal grundsätzlich und was sollen wir machen, wenn jemand erwischt wird, der solche Parolen verbreitet? Da sagen die einen: Klare Kante! Solche Schülerinnen und Schüler wollen wir nicht in unserer Einrichtung. Wenn wir bestimmte Werte vermitteln wollen, dann müssen wir glaubwürdig sein und das geht nur, wenn wir Konsequent handeln, sobald eine Grenze überschritten ist. Und die anderen sagen: Wir müssen als Menschen, ja als Pädagogen, Werte vermitteln. Will heißen: Wir müssen die Schülerin oder den Schüler mitnehmen, begleiten und klarmachen, wo Fehler liegen, wo Grenzen überschritten sind. Natürlich müssen wir das auch in irgendeiner Form sanktionieren, aber nicht mit der Entlassung von der Schule. Zwei Positionen, die nachvollziehbar sind. Ich habe selbst mit mir gerungen, welche von beiden Positionen ich mir zu Eigen machen kann. Und als Schulseelsorger habe ich mich noch grundsätzlicher gefragt: Wie muss man gerade als katholische Schule eigentlich mit so einer Frage umgehen?

Musik III: Herbie Hancock, Secrets: Gentle Thoughts

Wie mit Grenzüberschreitungen umgehen, gerade als Schule in katholischer Trägerschaft? Für die Schule ist das Gottes- und Menschenbild aus der Bibel verpflichtend. Und das heißt: Der Mensch ist ein Abbild Gottes. Jede Person muss daher in all ihren Fassetten, ihrer Endlichkeit, ihrer Verletzbarkeit, ihrer Fehlerhaftigkeit ernst genommen werden als eine Persönlichkeit, die von Gott gewollt und geliebt ist. So schwer das auch manchmal ist. Ich muss mich ja nur an die eigene Brust schlagen: Wie oft verschatte ich durch mein Verhalten diese Abbildlichkeit Gottes?! Und dann geht es doch darum, dem Menschen, der von Gott kommt, zu helfen, dass diese Abbildlichkeit immer mehr erscheint und nicht verschattet wird. Dabei helfen, Grenzen und Wertschätzung zu zeigen. Beides gehört für mich zusammen.

Der bedeutende Kirchenvater Augustinus hat einmal gesagt[1]: Gott verurteilt die Sünde aber nicht den Sünder. Für mich ist diese Unterscheidung sehr hilfreich. Gerade in dem Problemfall an unserer Schule: Ablehnung von jeder Form von Antisemitismus und Rassismus und damit Haltung zeigen, und dennoch Wertschätzung den Schülerinnen und Schülern gegenüber, die solche Parolen verbreiten.

Und konkret wird das für mich: Wenn ich will, dass die Schülerinnen und Schüler selber zu einer Haltung finden, dann muss ich als Lehrer auch was dafür tun. Zu sagen, wir verweisen alle, die an meiner Schule Mist gebaut haben an eine andere Schule, löst ja das Problem nicht. Wenn ich aber konkret Grenzen aufzeige und begleite, kann Einsicht entstehen und eine Haltung wachsen.

Unsere Schule hat übrigens eine Strategie, um an Menschen, an Persönlichkeiten mit klarer Haltung zu erinnern: Einmal im Jahr macht die Schule eine Wallfahrt nach Xanten. Dort haben wir bisher immer die Gräber der frühchristlichen Märtyrer aufgesucht. Der Heilige Viktor, der für seinen Glauben gestorben ist, der liegt hier begraben. Aber Xanten ist ja noch viel mehr: Xanten ist auch Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus, für Märtyrer aus der jüngeren deutschen Geschichte. Hier wird Karl Leisner verehrt, ein junger Mann, der nicht den Mund gehalten hat, sondern für seine Einstellung gegen den Nationalsozialismus inhaftiert wurde, und an den Folgen seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau verstorben ist. Leisner zeigt bis heute: Es gibt menschenverachtende Parolen und Handlungen. Es gibt Mord aus Rassismus. Es gibt aber auch eine Haltung, die in jeder Person – unabhängig von Religion oder Volkszugehörigkeit – ein Geschöpf Gottes sieht. Und Leisner hat sich für diese wertschätzende Haltung entschieden. Ich hoffe, dass den Schülerinnen und Schülern klar wird, was Haltung bedeutet: Ich muss mich entscheiden: Auf welcher Seite will ich stehen: Menschenverachtung oder Menschenwürde?

Musik IV: Herbie Hancock, Secrets: Spider

Haltung setzt Selbstreflexion voraus. Was ist mir denn wirklich wichtig? Was sind die Werte, für die ich eintreten möchte? Es geht nicht bloß um Tradition und Folklore – schon gar nicht in einer katholischen Schule. Als Schulseelsorger frage ich mich daher: Was ist an unserem kirchlichen Leben an der Schule wirklich wichtig? Und wovon will die Schule Zeugnis geben? Für mich wird das eben konkret am Umgang mit den Schülerinnen und Schülern, die sich durch ihre Naziparolen über die Werte der Schule und auch unserer Gesellschaft hinweggesetzt haben. Ich will sie nicht rausschmeißen, sondern mit meiner Haltung zu ihrer Selbstreflexion beitragen, damit auch sie Haltung entwickeln.

Natürlich kann das auch schief gehen, dass ist der Preis einer freiheitlichen Erziehung. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Menschen vom Guten geprägt und verändert werden können. Ich muss mich den Menschen nur zuwenden und – wie es Augustinus sagte – die Sünde verurteilen aber nicht den Sünder.

Diese Haltung finde ich schon im Neuen Testament, wenn Jesus sich den Sündern zuwendet: den Zöllnern, den Huren, den windigen Gestalten. Da heißt es dann ganz anschaulich (Mt 9,12): „Nicht die gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.“ Und eines muss man sich klar machen an diesem Bild: Irgendwann im Leben braucht jede und jeder einmal einen Arzt, braucht jemanden, der eine Diagnose stellt. Das ist die Voraussetzung zur Behandlung und hoffentlich auch zur Heilung. Und so verstehe ich auch das Ausstellen von einem Zeugnis: Ich brauche auch hier und da eine Rückmeldung, eine Beurteilung, um mich weiter zu entwickeln. Und dann lebe auch ich davon, dass nicht ich als Person, sondern mein Verhalten beurteilt wird. Und das ist sehr beruhigend.

Musik V: Reinhard Mey mit Solisten der RIAS Berlin Band: Zeugnistag

Und wenn es in den nächsten Tagen Zeugnisse gibt, wünsche ich allen etwas von der Wertschätzung zu spüren, die Reinhard Mey in seinem Lied „Zeugnistag“ besingt. Aus Duisburg grüßt Sie Hermann-Josef Grünhage.

[1] Vgl.: In Io. Ev. tract. 33,6

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