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Kirche in WDR 5 | 28.01.2022 | 06:55 Uhr
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Die Überholspur
Autorin: Guten Morgen!
Dieses Lebensgefühl, wenn man am frühen Morgen am Rhein entlang mit dem Fahrrad fährt, in Gedanken versunken… Ich liebe es, mich Tritt für Tritt dem schönen Rhythmus meiner eigenen Bewegung zu überlassen… Das erinnert mich immer an ein Chanson von Yves Montand:
Geräusch: Yves Montand: „La bicyclette“
Autorin: Und dann das. Da klingelt mich einer weg. Da ist einer auf der Überholspur, ich erschrecke kurz, fahre etwas weiter rechts, und ich lasse ihn an mir vorbei.
Und als er mich gerade überholt, sehe ich: Der, der gerade noch so aggressiv geklingelt hat, zieht jetzt vollkommen lässig an mir vorbei, dabei die Hände noch hinter dem Rücken verschränkt. So als koste ihn der Überholvorgang null Energie. Ich tröste mich: Wahrscheinlich ist das ein Elektrofahrrad. Damit ist das Überholen ja auch keine große Kunst. Aber da ist etwas, das mir bekannt vorkommt:
Ständig überholt einer und zieht lässig vorbei. Ich erinnere mich:
Beim Haferflocken-Wettbewerb im Kindergarten weit abgeschlagen auf Platz 10; in der Schule bekommt die Maja den Hauptpreis im Lesen und nicht ich. Immer hat irgendjemand die bessere Note oder den kräftigeren Körperbau, einer ein Stipendium, die andere ein höheres Gehalt oder hat einfach mehr Glück. Ich vermute: „Überholt werden“ dürfte für viele Menschen eine vertraute Erfahrung sein. Ich erinnere mich daran, dass ich mich dann oft ohnmächtig oder wertlos gefühlt habe; ich nenne es mal das „Zweite-Klasse-Gefühl“.
Als ich noch über alle Überholungsvorgänge meines Lebens nachdenke, wird mein Blick wieder unwillkürlich rechts von mir auf den Rhein gelenkt. Die Morgenstrahlen schaukeln gemächlich auf diesem herrlichen Strom dahin, völlig zeitlos…
Und bald habe ich auch meinen eigenen Tret-Rhythmus wiedergefunden.
Und dann denke ich: Es gibt keinen Grund, sich zu ärgern. Ob ich früher oder später irgendwo ankomme. Was soll`s.
Womöglich steckt da sogar eine Absicht dahinter, dass es so ist.
Ich kann ich mir sogar vorstellen, dass mein langsames Tempo eine Gabe Gottes sein könnte, so wie meine Haarfarbe oder Größe. Eventuell ein echtes Privileg, so langsam wie eine Schnecke zu sein.
Es gibt so viele Vorteile. Mehr Zeit heißt: mehr sehen können, die Seele nachkommen lassen, immer wieder staunen, dass es doch weitergeht, wenn auch nicht auf der Überholspur sondern eben auf der Normalspur.
Musik: Yves Montand, La bicyclette
Autorin: Da -vor mir- ist einer auf einem Klapprad, einem Uralt-Modell, der noch langsamer ist als ich. Soll ich jetzt mal lässig dran vorbei…?
Nein- eine innere Stimme hält meinen Daumen davon ab, auf die Fahrradklingel zu drücken. Ich glaube - heute bleibe ich einfach mal ganz brav und entspannt hinter ihm…
Ich wünsche Ihnen noch einen guten Morgen, Ihre Pfarrerin Nicola Thomas-Landgrebe aus Frechen
Musik: Track 13, CD 1, „La bicyclette“, von CD: Yves Montand, , Interpret: Yves Montand, Label: PolyGram distibution 830 247-2, LC 07340
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze