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Das Geistliche Wort | 06.06.2022 | 08:40 Uhr
Die wachsende Einheit der Kirchen
Guten Morgen!
Es ist Pfingstmontag, und an vielen Orten und in vielen Kirchen in unserem Land werden heute ökumenische Gottesdienste gehalten. Und das ist gut so: Zeichen einer wachsenden Einheit der Kirchen! Mich erinnert das an einen Gottesdienst, der im März 2017 in Hildesheim stattfand, anlässlich von 500 Jahren Reformation. Dort versammelten sich Vertreterinnen und Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland, um den Weg der wachsenden Einheit der Kirchen zu unterstreichen durch gemeinsames Gebet. Vor dem Altar waren aus Eisen gegossene Teile aufgebaut, die zunächst wie Sperren aussahen. Im Laufe des Gottesdienstes wurden sie zu einem großen Kreuz zusammengefügt. Ein starkes Zeichen: Einheit im gemeinsamen Glauben an Jesus Christus. Hier wächst zusammen, was zusammengehört und wonach sich viele Christen bis heute sehnen.
Musik I: Keith Jarrett, Hymns / Spheres: Spheres [9th Movement]
Die Suche nach Einheit ist eine der großen Herausforderungen für die Christen. Dies gilt erst recht angesichts der gegenwärtigen Lage, da in unserem Land viele Menschen öffentlich keinen Glauben bekennen und nicht mehr zu einer Kirche gehören. Gleichzeitig werden die Erwartungen an einen interreligiösen Dialog immer größer.
Ich frage mich: Wie können Christen sich diesem Dialog stellen, wenn sie in verschiedene Kirchen gespalten sind? Das Kreuz aus den eisernen Teilen ist da wie eine Mahnung, aus der Verschiedenheit eins zu werden.
Die Heilige Schrift selbst ruft dazu auf, zu bezeugen, dass die Einheit möglich ist. So schreibt schon der Apostel Paulus: „Er, Christus, ist unser Friede. Er vereinigt die beiden Teile und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch nieder“ (Eph 2,14). Und weiter: „Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst“ (Eph 2,20).
Und besteht nicht einer der wichtigsten Beiträge der Christen darin, zu einem geschwisterlichen Zusammenleben auf der Erde und in der Menschenheitsfamilie beizutragen? Gerade in Zeiten schlimmer Kriege und Auseinandersetzungen ist solch ein Zeugnis wichtig.
Wie könnte es aussehen? Persönlich kann jede und jeder von uns einen Beitrag dazu leisten und konkrete Brücken des Zuhörens und der Freundschaft bauen, wo immer wir uns gerade befinden und auf einen fruchtbaren Dialog setzen.
Musik II: Keith Jarrett, Hymns / Spheres: Hymn Of Remembrance
Der Dialog der christlichen Konfessionen ist so notwendig, um die noch bestehenden Unterschiede ernst zu nehmen und die theologische Arbeit daran als unverzichtbar anzusehen. Immer mehr können wir Christen voneinander lernen, dass wir einander geben und voneinander empfangen. Es geht um die Einsicht, dass das Wesentliche des apostolischen Glaubens darin besteht, aufeinander zuzugehen. Das ist kein Relativismus, wie dogmatisierende Kritiker meinen, sondern Ausdruck tiefsten Vertrauens, dass der Heilige Geist hier wirkt.
Solches Vertrauen kennt viele Wege.
Einer der wichtigsten ist der des Gebetes. Noch öfter als bisher müssen Getaufte verschiedener Kirchen zum gemeinsamen Gebet zusammenkommen, bei dem das Wort Gottes in der Mitte steht. Warum sollte uns der Heilige Geist im Verstehen des Wortes Gottes nicht doch noch überraschen und zu neuen Einsichten führen? Ich bin überzeugt: Es ist in diesem Geist Christus selbst, der uns zusammenführt, damit seine Liebe viel strahlender leuchten kann, wenn wir in Demut bekennen, was uns fehlt und uns dem öffnen, was die anderen uns geben können.
Ein weiterer Weg ist der, auf Gottes Wort zu hören. In einem Psalm des Alten Testamentes heißt es bereits (Ps 86,11): „Lehre mich, Herr, deinen Weg, dass ich ihn gehe in Treue zu dir. Richte mein Herz auf das eine: deinen Name zu fürchten!“
So auf Gott zu hören, bedeutet zunächst, alles das aufzugeben, was uns hindert, Gottes Stimme zu vernehmen und sich innerlich zu sammeln. Im sprichwörtlichen Sinne müssen wir die Spuren, Andeutungen, Einladungen und Aufforderungen des Willens Gottes „einsammeln“, so wie der Bauer seine Ernte einsammelt und in die Scheune bringt oder ein Wissenschaftler die Ergebnisse seiner Versuche und seines Nachdenkens einsammelt und zu einer Synthese führt. Ich bin mir sicher: Sogar in den Sorgen und Nöten, die einen umtreiben, lässt sich noch erkennen, dass Gott bei den Menschen ist.
Musik III: Keith Jarrett, Hymns / Spheres: Spheres [5th Movement]
Wie wäre es, unsere unterschiedlichen christlichen Konfessionen nicht mehr als reine Gegenkulturen zu verstehen, sondern sie komplementär, also sich ergänzend zu denken. Wenn das alle täten, würde jede Konfession einen Weg beschreiten, der einübt, zukünftig Kirche zu sein.
Wir Christen können uns deswegen daran erinnern, dass wir „Menschen des Weges“ (vgl. Apg 9,1-2) sind, wie es die Apostelgeschichte formuliert. Jesus selbst sagt von sich: „Ich bin der Weg“ (Joh 14,6) und beschreibt damit christliche Existenz als Nachfolge in Form einer Bewegung.
Wie wäre es also, auf den oft verschlungenen Pfaden der heutigen Welt gemeinsam und doch jeweils einzeln nach den Spuren Jesu zu suchen und in der Vielstimmigkeit unserer Zeit auf die Stimme Jesu zu hören?
Dazu braucht es eine Kunst der geistigen und geistlichen Unterscheidung. Das Kriterium dazu ist die immer wieder zu stellende Frage: Was dient der allumfassenden Einheit, um das griechische Wort für „katholisch“ hier einmal zu verwenden? Und weiter: Was dient der Heiligkeit im Sinne einer Entschiedenheit, für Gott zu leben? Und was dient der Apostolizität im Sinne einer Treue zum apostolischen Ursprung, zur Sendung und zur Tradition?
Wir dürfen keine Gemeinschaft von Gläubigen sein, die aufhört, nach einer solchen Katholizität mit universeller Offenheit zu streben, denn sonst würden wir unsere christliche Identität und Authentizität verlieren.
Um es in einem anderen Bild zu sagen: Allumfassende Einheit, Heiligkeit und Apostolizität sind wie Samenkörner, die einen günstigen Boden brauchen, um zu wachsen. In ihnen und durch sie wirkt Gottes Kraft selbst. Wir müssen sie nur wachsen lassen. Eine solche Bewegung des Wachstums und des Reifens der Kirchen findet in der Geschichte statt. Erst ganz am Ende wird ihre große Fülle erscheinen. Mitten in der Geschichte aber bleiben wir eine Gemeinschaft derer, die auf dem Weg sind, eben ein Volk, das noch nicht am Ziel ist.
Und wichtig: Dieser Weg zur Einheit der Kirchen ist ein Weg der Selbsthingabe und einer heilenden Demut, die auf allen Ebenen nichts mit Klerikalismus zu tun hat.
Der frühere Bischof von Evreux, Jacques Gaillot, hat es einmal auf folgende Formel gebracht: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“ Und als Diener steht sie neben Christus, ist sie der fortlebende Christus, der als Auferstandener durch die verschlossene Tür menschlicher Ängste, zu enger Vorstellungen und zu klein gedachter Definitionen, Konzepte und Kategorien kommt.
Musik IV: Keith Jarrett, Hymns / Spheres: Spheres [8th Movement]
Wenn die Christen die konfessionellen Ängste überwinden, die sie zu sehr engführen in einen christlichen Partikularismus sowie eine Weltanschauung und stattdessen das Prinzip der gemeinsamen Wege wählen, geschieht hier kein Identitätsverlust, sondern eine Verwirklichung des zentralen Geheimnisses unseres Glaubens: nämlich österliche Verwandlung. Dazu braucht es eine Kultur der Begleitung und des Dialogs, mit der wir nicht nur die anderen besser verstehen, sondern auch uns selber neu begreifen lernen.
Schon das II. Vatikanische Konzil hat zu diesem dynamischen Kirchenverständnis einen wesentlichen Beitrag geleistet. Es geht um die Beziehung zwischen der Kirche Christi in ihrer zukünftigen Fülle und der katholischen Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte. Das Konzil sagt nun, dass die Kirche Christi in der katholischen Kirche subsistiert, was so viel heißt, als dass die Kirche Christi nicht in der katholischen Kirche aufgeht, sondern in ihr besteht. Das hört sich spitzfindig an, ist für die Ökumene aus katholischer Sicht aber hoch bedeutsam. Es gilt etwas Paradoxes und zwar unbedingt! In der zu erfahrenden hier und jetzt lebenden katholischen Kirche ist die Kirche Christi gegenwärtig, deren volle Herrlichkeit und Schönheit sich allerdings erst in der Ewigkeit offenbart. Darum ist diese katholische Kirche nicht der ganze Raum der Kirche Christi. Es gibt einen legitimen Platz für die vielen anderen christlichen Kirchen und für die Charismen, die Gott jenseits der sichtbaren Grenzen der Kirchen frei gewährt. Dahinter steckt die Einsicht, dass die Kirche zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte die Fülle des Geheimnisses Gottes ganz zu erschöpfen vermag. Für das weitere Wirken des Heiligen Geistes und für sein freies Strömen also bleibt Raum, bis am Ende der Geschichte alle die, die zu Christus gehören, in die Fülle der Wahrheit eingeführt werden.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch frühere Generationen haben dem Geist Gottes Raum geschenkt. Daher gilt es mit großem Respekt vor der christlichen Tradition zu stehen und doch offen für die Zukunft zu bleiben.
Eine solche dynamische Vorstellung gilt übrigens auch für das Sakrament der Taufe. Sie hat den Charakter eines unauslöschlichen Zeichens und bringt eine wirkliche Teilhabe am Leib Christi zum Ausdruck. Diese Gnade und Kraft der Taufe wirkt dynamisch weiter und schenkt dem Glaubenden Wachstum und Reife im Glauben. Für den Getauften, wie für die Kirche im Allgemeinen gilt: Sie müssen sich immer wieder im Raum ihrer Freiheit auf allen Ebenen der Existenz des Heiligen Geistes und seines Wirkens öffnen. Zugleich gilt es, sich demütig zu fragen, ob wir im Glauben und als Kirchen jeweils unserer Tradition treu sind.
Hier öffnet sich ein ständiger Spanungsbogen, der darüber Auskunft gibt, wie glaubwürdig die Christen und ihre Kirchen sind.
Hier wird deutlich, dass die wachsende Einheit eine Frage der Erkenntnis der Wahrheit, aber auch der Wahrhaftigkeit ist.
Hier zeigt sich, was in der suchenden Bewegung auf Jesus hin lebendig und wesentlich bleibt. Alle Christen sollen in dieser suchenden Bewegung auf Jesus hin leben und diese Bewegung einander je eigenständig auch zugestehen. Das erst lässt uns nicht nur den Reichtum in der weltumspannende Vielfalt der Kirche erahnen, sondern auch hoffen, dass wir in diesem einen Herrn Jesus Christus beieinander bleiben.
Was kann das konkret bedeuten? Konfessionsverbindende Ehen sind zum Beispiel „Werkstätten der Einheit“, wie es einmal Papst Benedikt XVI. formuliert hat.[1] Gleiches gilt ebenso für den intensiv beschriebenen geistlichen Ökumenismus und das ersehnte Ziel, nämlich Eucharistiegemeinschaft – gemeinsam am Tisch des Herrn.
Musik V: Keith Jarrett, Hymns / Spheres: Hymn Of Release
Ökumene ist kein Selbstläufer, sondern ein anstrengender Weg und eine bleibende Herausforderung. Daher gilt es, die kluge Aufforderung des Apostels Paulus zu beherzigen (Röm 12,2): „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: Das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene!“
In diesem Horizont steht die Ökumene, die davon überzeugt ist, dass Menschen Grenzen überschreiten können, weil sie der Verheißung Gottes auf Einheit trauen. Die Einheit der Kirchen muss nicht Utopie bleiben, sondern sie wächst dort, wo Menschen sich auf Gott verlassen.
Aus Essen grüßt Sie Bischof Franz-Josef Overbeck.
[1] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der ökumenischen Begegnung in Warschau am 25. Mai 2006