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Das Geistliche Wort | 12.06.2022 | 08:40 Uhr

Was ist Wahrheit?

Guten Morgen!

Wahrheit oder Fake News? Diese Frage kommt besonders dann in mir auf, wenn in Presse oder Internet eine These auftaucht, die mich verunsichert. Ich bin kein Mediziner, kein Politiker, kein Biologe, sondern Bibelwissenschaftler. Wo liegt die Grenze zwischen richtig und falsch? Wo begegne ich einer Mitteilung, die sich wie eine zuverlässige und plausible Information anhört, aber letztlich nur ausgedacht ist und durch keinerlei Tatsachen gedeckt ist? Und wo treffe ich auf die Wahrheit?

Was ist überhaupt Wahrheit? Immerhin: Die Frage stellte bereits der römische Statthalter Pontius Pilatus im Prozess gegen Jesus. Und die Antwort darauf ist bis heute offen. Dabei wird heute Morgen in den katholischen Kirchen während des Gottesdienstes folgender Satz Jesu aus dem Johannesevangelium vorgelesen (Joh 16,13):

„Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten.“

Hier wird derart selbstverständlich und gleich zweimal der Begriff Wahrheit bemüht, dass man sich schon fragen darf: Was ist damit gemeint? Zumal, wenn Jesus im selben Evangelium an anderer Stelle provozierend verkündet (Joh 14,6): „Ich bin die Wahrheit.“

Ich stehe so fragend vor dem Begriff Wahrheit wie der amerikanische Komponist Charles Ives, der seinen kurzen Orchestersatz „The Unanswered Question“ – also: „Die unbeantwortete Frage“ – wie mit einem Fragezeichen enden lässt. In den Schlusstakten formuliert über einem Klangteppich der Streicher als Ausdruck des Nichtwissens die Trompete eine Frage – ohne Echo und ohne Antwort. Hören Sie mal:

Musik I: Charles Ives, The Unanswered Question

Was also ist „Wahrheit“? Was meint besonders das Johannesevangelium, wenn es von Wahrheit spricht?

Das Wort scheint mir die Sehnsucht nach einem Ideal auszudrücken, das ständig gefährdet ist durch sein Gegenteil: die Lüge. Mit ihr möchte ich einsteigen, um mich auf diesem Umweg der Wahrheit anzunähern.

Geradezu resignierend stellt schon ein biblischer Psalm fest (Ps 116,11): „Alle Menschen sind Lügner.“

Der Schriftsteller Arno Stadler spitzt diesen Vers zu, wenn er den Psalm aus dem Hebräischen so übersetzt: „Die Menschen lügen. Alle.“

Provokativ hat er seinem Buch mit zahlreichen Psalmenübertragungen diesen Vers sogar als Überschrift gegeben.

Die Aussage klingt übertrieben, pessimistisch, zu verallgemeinernd. Und doch: Wer hat nicht schon die Erfahrung gemacht, dass es besser sein kann zu lügen, d. h. die Wahrheit abzuschwächen, sie zu verschweigen oder sogar ihr Gegenteil zu sagen? Die Motive für solches Lügen sind unterschiedlich, besonders im privaten Bereich: Angst vor der Reaktion des Gegenübers, Scham angesichts dessen, was eigentlich zu bekennen wäre, negative Folgen jedweder Art.

Letztlich ist die Lüge so etwas wie ein Selbstschutz, der aber eine furchtbare Kehrseite hat: Er untergräbt Vertrauen. Die Lüge zerstört das unbeschwerte Miteinander zwischen den Menschen, sei es, dass jemand in der beständigen Angst lebt, die Unwahrheit kommt ans Licht; sei es, dass eine einmal aufgedeckte Lüge auf Dauer verunsichert: Kann ich meinem Gegenüber überhaupt noch einmal vertrauen?

Die Bibel weiß um diese Wirkkraft des falschen Wortes, das nicht meint, was es sagt. Sie kennt seine gesellschaftszersetzende Macht und fordert deshalb immer wieder die Wahrheit ein.

Doch allein die Tatsache, dass etwa das biblische Buch der Sprüche mehr zur Wahrheit mahnt als ihr Vorhandensein feststellt, zeigt, dass Ideal und Wirklichkeit damals – wie wohl auch heute – weit auseinanderliegen: „Wer Wahrheit spricht, sagt aus, was recht ist, der falsche Zeuge aber betrügt“, heißt es da (Spr 12,17).

Zugleich wird aus diesem Weisheitsspruch erkennbar, wo die Rede von der Wahrheit ihren prominentesten Ort hat: im Gerichtswesen. Hier kann Wahrheit bzw. Lüge über Leben und Tod entscheiden. Dabei ist weniger im Blick, ob ein Übeltäter die Wahrheit sagt, sondern der Zeuge. Nicht zufällig hat es der Meineid bis in die Zehn Gebote hineingebracht (Dtn 5,20): „Du sollst … nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen.

Mir fiel als musikalische Ausmalung der negativen Sogkraft der Lüge eine kleine Passage aus Gustav Mahlers 3. Symphonie ein. Auf ein frech sich behauptendes Trompetenmotiv folgt eine Tonleiter der Holzbläser, die über mehrere Oktaven in die Tiefe fällt. Die anschließenden Warnrufe der Hörner verhindern nicht den Absturz ins Nichts. Hören Sie selbst:

Musik II: Gustav Mahler, 3. Symphonie, 1. Satz

Wenn ich vorhin davon sprach, dass die Wahrheit mehr ersehnt als erlebt wird, dann lässt sich diese Sehnsucht jetzt genauer umschreiben: Es geht um die Sehnsucht, keine Angst haben zu müssen und die Sehnsucht, einem anderen Menschen absolut vertrauen zu können. Zugleich geht es auch um die Sehnsucht, nicht zu Unrecht beschuldigt und letztlich ums eigene Leben gebracht zu werden – wörtlich oder auch nur im übertragenen Sinn.

Wahrheit meint dabei immer, nichts Anderes zu sagen als das, was ist. Sie meint die Übereinstimmung zwischen Wort und Inhalt, zwischen Aussage und dem, was sich tatsächlich zugetragen hat bzw. was stimmt. Das klingt vielleicht banal und selbstverständlich, ist es aber tatsächlich nicht.

Dies zeigt sich wieder im Gegenbild, besonders dann nämlich, wenn Lüge gar als bewusstes Instrument eingesetzt wird. Als Bibelwissenschaftler hat mich in dem Zusammenhang vor kurzem ein Bibelvers wirklich erschreckt, der mir bislang noch nie aufgefallen war. Im Buch Daniel wird die Zeit der Griechenherrschaft im Gefolge Alexander des Großen geschildert. Ständig rivalisierten damals das Königshaus in Ägypten mit dem von Syrien, das den vorderen Orient regiert. Immer will ein König den anderen ausstechen und die Herrschaft über das Gesamtreich erhalten. Über die Zusammenkunft dieser Könige heißt es nun (Dan 11,27):

Beide Könige sinnen auf Böses; sie sitzen am selben Tisch zusammen und belügen einander.

Ich muss da unweigerlich an den 6 Meter langen Tisch im Kreml denken, an dem Präsident Putin mit anderen Staatsoberhäuptern aus aller Welt spricht. Soweit die Personen auseinandersitzen, soweit scheint die Wahrheit auch von der Wirklichkeit entfernt zu sein, weil zumindest einer kräftigst lügt. Die Methode absichtlich eingesetzter Unwahrheit scheint also nichts Neues zu sein. Die Bibel bescheinigt es ausdrücklich bereits für das 2. Jahrhundert vor Christus.

Damit sind wir auch nicht mehr weit entfernt von den eingangs erwähnten Fake News. Was unterscheidet sie von der Lüge? Einfach gesagt: ihre Absicht. Anders als Die Lüge verschleiert die Wahrheit mit dem Ziel: ich will mich selbst schützen, weil die Wahrheit über etwas, was bereits geschehen ist, unangenehm und unbequem ist. Es geht darum, die Vergangenheit zu kaschieren. Der Preis für die Lüge ist, wenn sie aufgedeckt wird, der Vertrauensverlust. Aber der wird dabei als Nebeneffekt in Kauf genommen.

Die Absicht der Fake News geht in eine andere Richtung: Das Vertrauen in bestimmte gesellschaftliche Sichtweisen, Traditionen, Gewohnheiten, politische Überzeugungen oder auch in das gute Ansehen von Personen des öffentlichen Lebens soll erschüttert werden, um Macht und Einfluss zu gewinnen. Das ist der eigentliche Zweck, warum sie in die Welt gesetzt werden. Damit dies gelingt, wird alles darangesetzt, die Unwahrheit so gut wie möglich in das Gewand einer wahr klingenden Nachricht zu kleiden.

Anders formuliert: Wollen Lügen die eigentliche Wahrheit verbergen, so wollen Fake News bewusst eine vorgetäuschte Wahrheit unters Volk bringen. Sie sind ein Propagandamittel zum Zweck der Manipulation. Mit einem Sprichwort könnte man sagen: Lügen haben kurze Beine, Fake News etwas längere, weil sie viel schwerer zu enttarnen sind.

Aus biblischer Sicht haben beide, Lüge wie Fake News, keine Beine, auf denen sich wirklich stehen und gehen lässt. Ihnen fehlt eine heilvolle Perspektive und sie sind kein tragfähiger Untergrund, auf das sich ein Haus des Lebens bauen ließe.

Genau das aber bezeichnet der biblische Begriff der Wahrheit: ein Fundament, auf das sich bauen lässt.

Übrigens: Musikalisch hat die Vorstellung vom Fundament in der Passacaglia eine eigene Form gefunden. Der Komponist entwirft ein Bassthema, über dessen unveränderter Wiederholung sich ein vielfältiges musikalisches Leben abspielt. Hören Sie in die Anfänge einer Orgel-Passacaglia von Johann Sebastian Bach hinein, für Orchester gesetzt von dem Italiener Ottorino Respighi:

Musik III: J. S. Bach, Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582

Im Hebräischen steht für Wahrheit das Wort „ämät“ und das hat mit „Festigkeit“ und „Bestand“ zu tun. Verlässlichkeit, Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit sind damit die biblischen Vorstellungen, die sich mit dem Begriff der Wahrheit verbinden. Es geht also nicht um Lehrsätze, über deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit man streiten kann, über die sogar Religionskriege geführt wurden und werden. Es geht letztlich darum, ob dem zu trauen ist, der von sich sagt (vgl. Ex ,14): „Ich bin – und zwar als der, als der ich mich immer neu erweise und zeige.“ Diese Selbstaussage Gottes wird biblisch immer wieder zu einer Zusage erweitert (z. B. Ex 3,12): „Ich bin mit dir“ – und zwar grundsätzlich und immer. Die biblische Wahrheit wird so an ein persönliches Gegenüber geknüpft: menschliche Sehnsucht nach allerletzter Verlässlichkeit und Verbindlichkeit ist nicht ein Phantasieprodukt, sondern sie gilt einem wirklichen und wirksamen Gegenüber.

Und christlicher Glaube ergänzt: Der, der sagt „Ich bin“ und „Ich bin mit dir“, hat sich in Jesus von Nazareth uns gleichgemacht: Er wurde Mensch, damit wir seine, d. h. Gottes Wahrheit zumindest für die Zeit des Wirkens Jesu sehen, hören, fühlen und erleben dürfen. Man kann sagen: Jesus legt die Wahrheit Gottes frei – denn das ist die Bedeutung des griechischen Wortes für Wahrheit alètheia: „aus der Verborgenheit herausholen, ans Licht bringen“.

Keiner bringt diesen Zusammenhang so deutlich auf den Punkt wie der Evangelist Johannes, wenn er Jesus sagen lässt (Joh 14,6): „Ich bin die Wahrheit.

Mit den beiden Worten „Ich bin“ erklingt aus Jesu Mund die Stimme Gottes, die einst zu Mose sprach: „Ich bin, der ich bin.“ Und mit dem Wort „Wahrheit“ macht Jesus deutlich, dass er genau dafür steht, dass sich auf Gott verlässlich bauen lässt. Gott bietet sich in Jesus an als Fundament des existentiellen Lebenshauses – für jede und jeden Einzelnen.

Wahrheit so verstanden ist für mich Lebensgrund, Lebensgrundlage und Lebensermöglichung, die von keiner Stimmungsschwankung, keinem Vorbehalt, keinem Eigeninteresse oder Machtspielchen abhängt! Für mich ist das eine ungeheuer tröstliche und befreiende Wirklichkeit. Ihr trauen zu können, verhindert bei mir weder Ärger noch Leiderfahrung, aber sie nimmt mir alle Angst um mich selbst: in Begegnungen mit Menschen, in schlimmen Situationen, in lebensbedrohlicher Krankheit und schließlich – so hoffe ich zuversichtlich – im Sterben.

Musikalisch hat diese Zuversicht auf festem Wahrheitsgrund keiner schöner zum Ausdruck gebracht als Gustav Mahler im Finale seiner Auferstehungssymphonie. Das nun erklingende orchestrale Vorspiel, das an einen Sonntagvormittag mit Vogelgezwitscher erinnert, mündet in den leise gesungenen Choral: „Auferstehen werd ich, um zu leben.“

Musik IV: G. Mahler, Symphonie Nr. 2 c-Moll, Finale 4. Satz

Sicher, Mahler hat vor allem das Leben nach dem Tod im Blick. Aber wenn Gott die Wahrheit ist, die wie ein festes Fundament trägt und die Grundlage des Lebens ist, dann gilt das auch schon in diesem irdischen Leben. Und dieses Leben zeichnet sich aus durch die Wege, die zu gehen sind. Sie zu wagen, sich täglich neu auf die Spur des Lebens zu machen, dazu ermutigt Jesus, der Sohn Gottes selbst, wenn er von sich im Johannesevangelium sagt: „Ich bin die Wahrheit“. Vollständig lautet seine Zusage nämlich (Joh 14,6): „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Ich übersetze das so: Jesus lädt ein, loszugehen und im Setzen der Schritte mit dem Traggrund allen Lebens, also mit Gott selbst
in Berührung zu kommen. So kann alle Angst weniger werden, das Leben hingegen reicher. Diesen Weg auszuprobieren, dazu ermutigt Jesus, wenn er im Johannesevangelium, das heute im katholischen Gottesdienst verlesen wird sagt (Joh 16,13): „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten.“ Gute Erfahrungen mit der Wahrheit, die letztlich Gott selbst ist, wünscht Ihnen Gunther Fleischer aus Köln.

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