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Kirche in WDR 5 | 16.07.2022 | 06:55 Uhr

DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.

Alt werden mit Anstand

Guten Morgen,

„Ich möchte mit Anstand alt werden!“, sagt ein Mann um die sechzig im Radio. Da spricht jetzt kein Moralapostel. Sondern ein dankbarer Christ. In seinem Glauben blickt er „über das Grab hinaus“, wie er sagt. Und er hofft auf noch viele schöne geschenkte Lebensjahre. Und die will er nun eben nutzen, um mit Anstand alt zu werden. Damit meint der Mann nicht, dass ich mich durch besondere Leistungen bei Gott und Menschen ins rechte Licht rücken soll. Er meint es eher wie es eine unbekannte Äbtissin einmal in einem Gebet formuliert haben soll:


Sprecherin (weiblich): „Herr, du weißt, dass ich altere und bald alt sein werde. Bewahre mich davor, schwatzhaft zu werden, und besonders vor der fatalen Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes Thema mitreden zu wollen. Befreie mich von der Einbildung, ich müsse anderer Leute Angelegenheiten in Ordnung bringen. (…) Ich wage nicht, dich um die Fähigkeit zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen über ihre Leiden mit nie versagender Teilnahme anzuhören. Hilf mir nur, sie mit Geduld zu ertragen, und versiegle meinen Mund, wenn es sich um meine eigenen Kümmernisse und Gebrechen handelt. Sie nehmen zu mit den Jahren, und meine Neigung, sie aufzuzählen, wächst mit ihnen.

Ich will dich auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten, nur um etwas mehr Demut und weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerungen nicht mehr mit der anderer übereinstimmt. Schenke mir die wichtige Einsicht, dass ich mich gelegentlich irren kann.

Hilf mir, einigermaßen milde zu bleiben. Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine Heilige zu werden. Mit manchen von ihnen ist es so schwer auszukommen. (….)

Mache mich teilnehmend, aber nicht sentimental, hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Gewähre mir, dass ich Gutes finde, wo ich es nicht vermutet habe, und Talente bei Leuten, denen ich es nicht zugetraut hätte. Und schenke mir, Herr, die Liebenswürdigkeit, es ihnen zu sagen. Amen.“ (1)

Ich freue mich über dieses Gebet, das sogar im Evangelischen Gesangbuch steht. Es ist nicht nur ernsthaft, sondern zugleich überaus vergnüglich. Wie schön, dass hier ein Mensch vor Gott über sich selbst lachen kann und seine Schwächen und Fehler ehrlich offen ausspricht. Allein der Satz: „Schenke mir die wichtige Einsicht, dass ich mich gelegentlich irren kann“, ist doch Goldwert. Vielleicht hat jener Mann, der mit Anstand alt werden will, auch gerade an die Weisheiten und Wahrheiten dieses Gebetes gedacht. Es ist ja wirklich so: Wenn ich mein Augenmerk auf das richte, was ich noch habe, statt auf das, was ich verloren habe, wenn ich die Fülle der vergangenen Jahrzehnte schätzen kann, dann empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit. „Solange wir Dankbarkeit für das Erlebte empfinden, ist es auch nicht schlimm, nicht alles gehabt zu haben“, sagt der 90-jährige Theologe Prof. Fulbert Steffensky.

Ja – altern erfordert Mut! Weil die Verluste zunehmen. Weil ich Fähigkeiten und Freunde verliere. Das ist schmerzhaft in einer Gesellschaft, in der Jugend und Leistungsstärke im Vordergrund stehen. Doch das Alter kann auch eine sehr produktive Lebenszeit sein, ob ehrenamtlich, künstlerisch oder familiär. Und vor allem: Mit einer großen Portion Humor, Gelassenheit und Gottvertrauen wie die Äbtissin sie hatte.



Dass Ihnen dies gelingt, wünscht Ihnen Prädikant Werner Brück aus Remscheid.


Quelle:

(1) Evangelisches Gesangbuch (eg), Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, eg 830.3, S. 1423, Gebet einer unbekannten Äbtissin (oftmals Teresa von Avila zugeschrieben).



Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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