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Kirche in WDR 5 | 13.09.2022 | 06:55 Uhr
Schlussstein
Guten Morgen,
„Das seid ihr?“, fragt mich meine erwachsene Tochter ungläubig, als wir alte Fotos betrachten. Das Bild, um das es geht, zeigt meinen Mann und mich vor 30 Jahren als Studenten, beide in der Seitenansicht nebeneinanderstehend in einer gotischen Kirche, den Blick gemeinsam gebannt nach oben gerichtet. Wir waren mal wieder auf Exkursion mit Professor Arnold Angenendt einem sehr bekannten Kirchenhistoriker, der leider vor einem Jahr verstorben ist. Einmal im Jahr im September fuhr er mit 50 Studentinnen und Studenten quer durch Europa in einem Bus, um Kirchen und Kulturlandschaften zu besuchen – Kirchengeschichte live.
Einer seiner wichtigsten Anweisungen beim Betreten einer gotischen Kirche war: „Schauen Sie nach oben, immer direkt nach oben schauen und den Schlussstein suchen!“ Danach ging es um Baustilbestimmung, architektonische Besonderheiten und theologische Weltbilder, die sich darin ablesen lassen.
Angenendt erklärte: Ohne einen Schlussstein ist ein gotisches Gewölbe nicht fertig, er ist der wichtigste Stein und wird als letztes gesetzt. Er hält alles zusammen und auf ihn läuft alles zu. Kein Wunder dass der Schlussstein in der Theologie gleichgesetzt wurde mit Christus, den die Bibel als Eckstein bezeichnet (vgl. Eph 2,20f). Denn auch der Eckstein hält alles zusammen. Manchmal zeigen die Schlusssteine daher eine Darstellung von Jesus selbst, manchmal nur die griechischen Buchstaben Alpha und Omega. Das soll so viel heißen wie: Christus ist der Anfang und das Ende, von ihm geht alles aus und auf ihn läuft alles zu.
Daran muss ich immer wieder denken, wenn mir in meinem Alltag mal wieder alles über den Kopf wächst und mir der Überblick fehlt: Wo soll ich anfangen? Was muss zu Ende gebracht werden? Dann den Blick nach oben werfen, um wieder das Wesentliche zu sehen, um Zusammenhänge zu sehen und Ausgangspunkte zu erkennen. Der Blick nach oben ist wie ein Perspektivwechsel, der mir hilft, Dinge besser einzuordnen – ja sie Gott zuzuordnen. Ist es nicht er, der alles hält und trägt?
Oft wünsche ich mir so einen Perspektivwechsel auch für die Kirche: zum Beispiel in den Diskussionen über die Lebensentwürfe von Menschen, ihre sexuellen Ausrichtungen und ihr Recht, in der Kirche zu arbeiten, oder bei den Debatten über die Rolle der Frau in der Kirche. Da frage ich mich oft, ob es da nur noch um Machterhalt geht, oder wirklich noch um den Blick hin zu dem, der der Ursprung und Schlussstein des Glaubens ist: zu Gott. Der Blick zum Schlussstein macht für mich deutlich: alles, wirklich alles rührt von Gott her und läuft auf ihn hinaus. Das ist es, was wirklich zählt, und nicht, wer unter den Menschen das Sagen hat. Gott ist bei allen Menschen und über allen Menschen, ganz gleich, ob Mann oder Frau, Priester oder Laien, egal welcher Nationalität oder sexueller Orientierung. Und ohne Gott ist die Kirche nichts. Daher darf die Kirche den Blick auf ihn, den Schlussstein nicht aus den Augen verlieren. Auf den, der jeden Menschen ins Leben gerufen hat. Auf ihn, von dem nach unserem Glauben alles ausgeht und sein Ziel findet.
Das, was ich bei Arnold Angenendt lernen durfte, wirkt in meinem Leben nach, bis heute. Dazu gehört auch, dass ich bis heute in jeder für mich neuen Kirche, die ich betrete, zuerst nach oben schaue und den Schlussstein suche.
Danke für diesen Blickwinkel und damit für den Perspektivwechsel!
Aus Gladbeck grüßt Sie Meike Wagener-Esser