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katholisch
Kirche in WDR 5 | 02.01.2023 | 06:55 Uhr
Die Seele kommt nach
Tag zwei des Jahres beginnt
und ein wenig Rüstzeug dafür scheint nicht zu schaden. Gerade am Jahresanfang
gehört für mich dazu, noch genau auf meinen Umgang mit der Zeit zu schauen. Und
daher: eine Weisheitsgeschichte aus der Zeit des Wilden Westens. Ein alter Apache
ist fasziniert vom großen Stahlross des weißen Mannes. Sein innigster Wunsch
ist es daher, ein einziges Mal mit einem Zug zu fahren. Eines Tages bietet sich
ihm die Gelegenheit. Er wird zu einem Kongress eingeladen und soll die Strecke
mit dem Zug zurücklegen. Dabei wird er von einem weißen Mann begleitet. Während
der Fahrt schaut der Apache fasziniert aus dem Fenster. Sie fahren an Wäldern
und Bergen vorbei. Nach einigen Stunden hält der Zug zum ersten Mal an einer
Station. Der alte Apache nutzt die Gelegenheit um auszusteigen. Er setzt sich
auf dem Boden in das Gras und schließt seine Augen. Verwundert fragt ihn sein
Begleiter: “Darf ich Sie fragen, was Sie hier tun? Wir sind doch noch lange
nicht am Ziel angelangt!“ . Nach einer Weile öffnet der Indianer seine Augen
und sagt: Mein Körper ist an diesem Ort angelangt. Jetzt muss ich noch warten,
bis meine Seele nachgekommen ist.
Die Seele nachkommen zu
lassen. Was für ein fantastisches Bild. Viele Menschen leiden unter der
Schnelllebigkeit der Zeit. Sie hetzen durch den Tag und ihre Seele hat keine
Chance nachzukommen. Der Zug des Lebens fährt unbarmherzig immer weiter. Ohne
Station ohne Halt. Das Leben wird für sie wie der bedrohliche Stahlkoloss in
der Kurzgeschichte. Einnehmende Berufe, die modernen Kommunikationsmittel, ja
sogar den Begriff Freizeitstress kennen wir heutzutage. Der Versuch, all das,
was man in der Woche nicht schafft, in die freie Zeit zu packen und dabei
möglichst viel zu erleben. Immer mehr Menschen versuchen aber auch, aus dem Zug
des Alltags auszusteigen. Sie nehmen sich eine wohltuende Auszeit. Sie suchen
für sich Zeiten der Ruhe. Für den einen kann das ein Spaziergang durch den Wald
sein. Für den anderen ein Moment des Musizierens. Oder ein gutes Buch bei einer
Tasse Kaffee und einem Stück Schokolade. Auch die Kirchen kennen viele
Möglichkeiten, die Seele nachkommen zu lassen. Bewusste Unterbrechungen des Tages,
um innezuhalten, zur Ruhe zu kommen und sich vor Gott zu stellen. Der Engel des
Herrn dreimal am Tag. Um sechs, um zwölf und um 18:00 Uhr. Seit vielen Jahren
nehme ich mir auch jeden Tag bewusst eine kurze Auszeit. Ich zünde eine Kerze
an, spreche Gebete und lese in einem Buch. Meist ein theologisches Buch, die
Bibel, oder ein anderes Buch, das mich geistig inspiriert. In einem dieser
Bücher habe ich die Geschichte des alten Apachen gefunden und sie hat mir
bewusst gemacht, wie wichtig diese Auszeiten im Alltag sind. Glücklich sind
die, die aussteigen können, wenn der Moment es erlaubt. Das muss gar nicht mal
so lange sein. Manchmal reichen schon ein paar Minuten Ruhe, um dem Stahlross
des Alltags zu entfliehen und die Seele nachkommen zu lassen.
Kommen Sie gut durch die
erste Woche dieses Jahres. Es muss ja nicht gleich der Affenzahn sein, mit dem
Sie das machen. Herzlich grüßt aus Fröndenberg, Heiner Redeker.