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Das Geistliche Wort | 05.03.2023 | 08:40 Uhr

Loslassen um des Lebens willen

Es gibt Dinge, die muss jeder Mensch vom ersten Augenblick seines Lebens an lernen. Dazu gehört wesentlich das Loslassen. Darüber nachzudenken scheint ja gerade in diese Zeit zu passen – in die Fastenzeit. Für viele Menschen hat diese Zeit eine Atmosphäre von Verzicht und vielleicht sogar von Verlust. Doch loslassen bedeutet nicht einfach nur Verlust, sondern kann auch Gewinn bedeuten. Ich bin Schwester Ancilla Röttger aus dem Klarissenkloster in Münster und wünsche Ihnen einen guten Morgen.


Musik 1: Carlos Santana, Guajira


Neugeborene besitzen stark ausgeprägte Reflexe, die dem Überleben dienen sollen. Wenn ich einem Säugling meinen Finger in das Händchen lege, klammert er sich sofort daran fest. Eine gesunde Reaktion. In einer Schrecksituation würde sich das Kind sofort an die Mutter klammern, um nicht aus dem Arm der Mutter zu fallen. Allerdings lässt dieser Reflex nach einigen Wochen oder Monaten nach und das Kind lernt loszulassen, um etwas anderes greifen zu können. Es muss loslassen lernen, um ins Leben zu kommen. Das kann man schön sehen beim Laufen Lernen: Denn wenn es laufen lernt, braucht es Mut, den sicheren Halt loszulassen, um in Bewegung zu kommen. Und auch die Erwachsenen, die dem Kind Halt bieten, müssen loslassen, damit es eigene Schritte tun kann. Das heißt doch: Loslassen, damit Andere Schritte ins Leben wagen können, loslassen um des Lebens willen.

Und am Ende des Lebens? Da ist wieder loslassen gefordert – sowohl von dem Menschen, der stirbt, als auch von dem, der ihn dabei begleitet oder einfach nur zu ihm gehört. Ganz eindrücklich hat mir das ein Freund geschildert, als er mir vom Sterben seiner Frau erzählte. Sie war lange Zeit schwer krank. Er hat sie liebevoll gepflegt und in ihrer Krankheit begleitet. Während der Krankhausaufenthalte wurde sie immer mal wieder künstlich beatmet mit einer Maschine. Und sobald sie den eigenen Atem wiedergefunden hatte, stellte er selbst die Beatmungsmaschine ab. Es kam der Moment, wo sie nicht wieder in ihren eigenen Atem hineinfand und starb. Und da er es immer getan hatte, wollte er gern auch in diesem Moment nach ihrem Tod die Maschine selbst abstellen. Vielleicht hat er im Schmerz etwas zu lange den Knopf gedrückt, jedenfalls stand plötzlich auf dem Display: loslassen. Was für eine Botschaft! Es ging jetzt nicht bloß um den Knopf an der Maschine, sondern es ging jetzt um seine Frau, die er liebte und die er loslassen musste, weil der Tod sie aus dem Leben gerissen hatte.


Musik 2: Carlos Santana, Song of Wind


Wie oft wird Menschen etwas aus der Hand gerissen, von dem sie glaubten, es sei unverzichtbar für ihr Leben: Beziehung, Gesundheit, materielle Sicherheit, das eigene Haus, aber auch Sinn und Leben. Und was bleibt ist zumeist das Gefühl der Leere, des Verlustes und zunächst mal ganz gewiss nicht das Gefühl, etwas gewonnen zu haben. Immer noch stehen mir Bilder vor Augen von Menschen in den Erdbebengebieten in der Türkei und in Syrien, die nur noch vor Trümmern und Ruinen ihrer Häuser stehen. Aber es geht nicht nur um äußere Trümmer und Ruinen, sondern auch um innere: Wo sind die geliebten Menschen? Wo ist Lebensraum, Luft zum Atmen? Wo ist der Sinn einer Naturkatastrophe? Oder ich denke an die Menschen in der Ukraine oder anderen Kriegs- und Krisengebieten. Oder wenn ich nicht ganz so weit schaue, sehe ich Menschen, denen eine Krankheitsdiagnose die Lebensperspektive abgeschnitten hat; Menschen, deren Familie als ihr Lebensort zerstört ist; Menschen mit zerbrochenen Beziehung; Menschen, die durch den Verlust ihrer Arbeit plötzlich um ihre Lebensgrundlagen fürchten müssen. Oder es genügt auch oft ein Blick in das eigene Leben: zerplatzte Träume, verlorene Hoffnungen.

Wofür habe ich mich im eigenen Leben eingesetzt – und was ist daraus geworden: Frieden, Gerechtigkeit, Gesundheit, gelingende Beziehungen, Achtsamkeit im Umgang mit der Schöpfung? Und ich stelle fest: Am Ende ist das, was gelingt, nicht das Ergebnis meines Tuns, sondern trotz allem Einsatz letztlich Geschenk. Aber ich weiß auch: Ein Geschenk kann mir auch wieder genommen werden.

Allerdings ist es nicht dasselbe, ob mir etwas genommen wird, aus der Hand geschlagen wird, oder ob ich etwas bewusst loslasse. Loslassen ist ein Akt eigener Freiheit, den jeder selbst vollziehen muss – wie alles, was die eigene Freiheit betrifft. Was mir genommen wird, was mir aus der Hand geschlagen wird, habe ich deswegen noch nicht losgelassen. Ich greife oft immer noch danach und will es zurück haben. Und ich wage zu behaupten: das meiste Leid im Leben rührt daher, dass ich nicht loslasse, was nicht mehr zu halten ist, gerade dann, wenn sich meine Lebenssituation ändert. Und dann bin ich auch nicht frei, das anzunehmen, was meine veränderte Lebenswirklichkeit jetzt ausmacht. Ein Beispiel: Angenommen jemand verliert durch eine Krankheit oder einen Unfall die Fähigkeit zu laufen. Das Leidvolle in dieser schweren Situation ist der Wunsch, wieder laufen zu können, dass alles wieder so wird wie zuvor. Doch die unumkehrbare Realität im Augenblick ist die, dass er nicht laufen kann und vielleicht auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Und mir ist sehr bewusst: das ist sehr schwer; aber der Akt der Freiheit läge in diesem Augenblick in der Akzeptanz der Wirklichkeit, nicht laufen zu können. Der Wunsch nach freier Beweglichkeit wird bleiben, nur wenn ich ihn loslasse, d.h. ihm nicht erlaube, mein Denken, Fühlen und Wollen zu bestimmen, kann ich mich für das öffnen, was mir vielleicht vom Rollstuhl aus möglich ist. Das ist alles andere als leicht!


Musik 3: Carlos Santana, Revelation


Wenn das Loslassen ein Akt meiner Freiheit ist – wie kann ich es denn einüben?

Um das zu beantworten, greife ich auf eine Begegnung mit einer Schulklasse im Sprechzimmer meines Klosters zurück. Eine Klasse neun- bis zehnjähriger Jungen kam zu uns mit der Frage, was für uns Armut bedeutet. Ich habe kurz überlegt, wie ich das den jungen Leuten erklären kann und suchte nach einem Anknüpfungspunkt aus ihrer Lebenswelt. So griff ich das Bild der gerade laufenden Fußball-Weltmeisterschaft auf: Angenommen ihr habt ein wichtiges Spiel gegen eure Parallelklasse. Ihr habt trainiert und seid bereit. Das Spiel beginnt und bei dem Eröffnungspfiff nimmt euer Torwart eine Cola und eine Tüte Chips aus seiner Tasche und steckt sich die Ohrstöpsel seines Handys ins Ohr. – Empört unterbrachen mich die Jungen: Das geht doch nicht. – Und ich fragte weiter: Mögt ihr denn keine Cola und keine Chips? Und benutzt ihr kein Handy? – Doch, antworteten sie immer noch empört, – aber er soll doch den Ball fangen! – Ja klar, meinte ich, das kann er doch trotzdem. – Nein, war die klare Aussage – dazu muss er die Hände frei haben! Und den Kopf auch.

Genau das ist es: Wenn ich den Ball fangen will, muss ich die Hände frei haben. Damit ist etwas Grundlegendes gesagt: Es geht nicht darum, mich von allem, was mir wichtig ist, abzuwenden; sondern um loslassen zu können, brauche ich ein Ziel, auf das hin ich loslasse. Und so ist das auch mit der Armut im Kloster: Ich lasse etwas los, um ein Ziel zu erreichen. Dabei kann das Ziel auch eine Idee sein, für die ich etwas loslasse, zum Beispiel mein Glaube, dass das Eigentliche erst noch kommt, wenn ich alles losgelassen habe. Daher würde ich sogar sagen: Es ist lebensnotwendig, das Vergangene loszulassen, damit meine Hände frei sind für das Neue, das möglich ist.

Wenn jemand nur vor den Trümmern und Ruinen seines Lebens stehen bleibt und den Blick nicht hebt, wenn jemand im erfahrenen Leid nur in sich selbst und seiner Verlustsituation hängen bleibt und sich nicht in seiner Verantwortung auch für andere öffnet, wenn jemand nach schmerzlicher Auseinandersetzung mit einer Krankheitsdiagnose sich nur rückwärts orientiert auf die Zeit hin, als er noch gesund war, und nicht die Vergangenheit loslässt, um der Zukunft eine Chance zu geben, wie auch immer sie aussehen mag – dann geht der Weg nicht weiter. Er bleibt in einer Sackgasse gefangen. Und noch einmal: niemand sagt, dass das leicht ist, loszulassen um Neues in Empfang zu nehmen!


Musik 4: Carlos Santana, Flor de Luna (Moonflower)


Loslassen beginnt in ganz kleinen Alltagsschritten. Und meine Erfahrung hat mir gezeigt: Wenn ich loslasse beschreite ich unversehens einen Weg zum Frieden, zur Gemeinschaft, zur Freiheit. Anders formuliert: Loslassen ist der Weg zum Leben! Und was können wir nicht alles loslassen um des Lebens willen:

Loslassen – den Wunsch, Recht zu haben; meine Ideen durchzusetzen; die Vorstellung vom anderen; die Planung des Tages, wenn sie durchkreuzt wird; die Erwartungen an diesen heutigen Tag;

loslassen – die Vorstellung von mir selbst; die unerreichbaren Ziele; die unerfüllbaren Wünsche;

loslassen – mein Bild von Gott; die eigenen Lösungsideen meiner Probleme; die Tagträume meines Alltags; den erbitterten Kampf um die Gesundheit, wenn die Krankheit unheilbar ist (nicht das Bemühen um den Kampf);

loslassen – was nicht Wirklichkeit ist, was nur Wunschvorstellung ist, um annehmen zu können, was denn die Wirklichkeit meines Lebens ausmacht.

Übrigens: Etwas loslassen heißt nicht, es wie eine heiße Kartoffel zur Erde fallen zu lassen, sondern es in der offenen Hand Gott hinzuhalten, dass Er es nehme, wenn Er will, und es mir lasse, wenn Er will. Und die Frucht dieses Loslassens ist nicht Gleichgültigkeit meinem Leben gegenüber, sondern tragender Friede.


Musik 5: Carlos Santana, Aqua Marine


Loslassen kann eine Haltung sein, die das Leben leicht und frei macht, weil man offen wird, um Neues anzunehmen – so wie eine gute Musik, in der der einzelne Ton nur dazu da ist, den nächsten vorzubereiten in dem Wissen, erst der Gesamtklang gibt die Musik. So hat es die große Mystikerin des 20. Jahrhunderts einmal formuliert, Madeleine Delbrêl. Sie spricht von einem Musiker, dessen Geigenspiel man nicht anmerkt, wieviel er geübt hat und was er hat alles loslassen müssen, um so virtuos zu sein. Sie schreibt:


Sprecherin:

„Die Zuhörer hätten niemals erraten können, dass die Melodie schwierig war,

und wie lang er Tonleitern üben musste, seine Finger verrenken,

um die Noten und Klänge sich in die Fibern seines Gehirns einprägen zu lassen.

Sein Körper war fast ohne Bewegung,

nur seine Finger, seine Arme.

Wenn er sich lang bemüht hatte, die Wissenschaft der Musik zu besitzen,

so war es jetzt die Musik, die ihn besaß,

die ihn belebte, ihn aus sich selber hinauswarf wie eine tönende Entzückung.

Unter jeder gespielten Note hätte man eine ganze Geschichte von Fingerübungen, Anstrengungen, Kämpfen entdecken können;

aber jede Note enteilte, als sei ihre Aufgabe erledigt,

wenn sie durch ihren genauen, vollkommenen Klang den Weg für eine andere vollkommene Note gebahnt.

Jede dauerte solange es nötig war.

Keine ging zu schnell los.

Keine verzögerte sich.

Sie dienten einem unmerklichen und allmächtigen Hauch. […]“[1]


Soweit Madeleine Delbrêl. Wenn es uns doch gelänge, in der Musik unseres Lebens jeden Ton loszulassen, um den Raum zu öffnen für den nächsten Ton. Dann würde es zu einer Lebensmelodie, die einmündet in ein großes Ziel, in das österliche Halleluja. Das wünscht Ihnen aus Münster Sr. Ancilla Röttger.


Musik VI: Carlos Santana, Europa (Earth's Cry, Heaven's Smile)



[1] Madeleine Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben, Einsiedeln 1974, S. 118-120.

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