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Kirche in WDR 5 | 05.04.2023 | 06:55 Uhr
Gekreuzigt
Guten Morgen!
Es glitzert auf Dekolletees, es reckt sich auf Berggipfeln, es grüßt an Weggabelungen, es erschreckt am Straßenrand. In Bayern muss es per Erlass in sämtlichen Landesbehörden angebracht werden: das Kreuz. Unter so vielen Erscheinungsformen ist seine Urform beinahe unsichtbar geworden. Das Kreuz, zentrales Symbol des christlichen Glaubens, stand ursprünglich für Terror und Gewaltherrschaft im antiken römischen Reich. Es war ein Folter- und Hinrichtungsinstrument.
„Darf man ein Mordwerkzeug ausstellen?“, fragte kürzlich eine große Zeitung (1). Man darf nicht, hat das Land Bayern entschieden. Es ging in diesem konkreten Fall nicht um irgendein Mordwerkzeug, sondern um die Guillotine, mit der Hans und Sophie Scholl und ihre Mitstreiter der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ von den Nationalsozialisten getötet wurden. Das ist jetzt 80 Jahre her. Ich kann die Entscheidung nachvollziehen. Wäre ich Angehörige der Ermordeten, ich wüsste nicht, ob ich die Vorstellung aushalten könnte, das Ding würde von jedermann angeschaut, auch von glotzenden Schaulustigen oder feixenden Neonazis.
Aus Rücksicht auf die Angehörigen bleibt die Guillotine unter Verschluss. Manche kritisieren das. Schwer zu entscheiden, was richtig ist.
Das Kreuz wird auf unzähligen Kirchturmspitzen ausgestellt. Weithin sichtbar. Es steht für das Kreuz von Golgatha, wo Jesus ermordet wurde. Jedes Kreuz auf einem Kirchturm, es holt dieses eine Kreuz, an dem Jesus starb, in die Gegenwart. Dem Glaubensbekenntnis der Christenheit reicht es nicht festzuhalten: „Jesus ist gestorben und begraben.“ Es betont: „Er wurde gekreuzigt.“ Es gäbe gute Gründe, das wegzulassen. Die Kreuzigung war die schändlichste und grausamste Art der Hinrichtung. Nackt ausgestellt vor den Augen schaulustiger Leute starben die Verurteilten einen quälenden und schmerzvollen Erstickungstod.
Die Anhänger und Anhängerinnen Jesu haben das auf subversive Art unterlaufen und ins Gegenteil gekehrt. Sie haben das Kreuz von einem Schreckenszeichen in ein Heilszeichen gewendet und gesagt: „Jesus Christus ist am Kreuz erhöht worden.“ Gerade in der tiefsten und schrecklichsten Erniedrigung haben sie Jesu göttliche Hoheit erkannt. Und bis heute feiern Christen, dass Jesus mit seiner Liebe dem Tod standgehalten hat. Das Kreuz wurde ihr Lebensbaum. Sie tragen es vor sich her als „Protestleute gegen den Tod“(2).
Ich selbst trage bei jeder Predigt ein Kreuz als Hinweis darauf: Jesus Christus ist auferstanden.
Es sind finstere Kapitel der Kirchengeschichte, in denen Christen selbst die Todesstrafe praktiziert haben. Ich meine, wir Christen, die einen Hingerichteten als Herrn und Retter bekennen, müssen Hinrichtungen ablehnen. Ein Ja zur Todesstrafe würde die Tür zur Barbarei öffnen. Ich will, dass diese Tür geschlossen bleibt. Ich bin eine Protestfrau gegen den Tod.
Einen gesegneten Tag wünscht Ihnen Annette Kurschus aus Bielefeld.
(1) https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/guillotine-sophie-scholl-nazis-weisse-rose-e754951/ (letzter Abruf 20.03.2023)
(2) So hat Christoph Blumhardt die Christen genannt.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze