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Kirche in WDR 5 | 11.04.2023 | 06:55 Uhr
Morgenstern
Es bleibt für mich unvergesslich: Ostern 2020 in Jerusalem, wo ich damals lebte. Wie in vielen Städten und Ländern war ein strenger Lockdown verordnet worden. Gerade einmal 100 Meter durfte man sich vom Haus entfernen, wenn es nicht zum Einkaufen ging oder medizinische Notwendigkeiten erledigt werden mussten. Und so hockten wir, meine Frau und ich, zu zweit „hinter verschlossenen Türen“ und versuchten, für uns Ostern werden zu lassen.
Ein Jahr später waren wir umgezogen nach Tabgha am See Gennesaret, wo ich heute das Pilgerhaus des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande leite. Dort hatten wir die Möglichkeit Ostern zu feiern – und zwar mit den Mönchen und Schwestern des dortigen Benediktinerklosters. Wir waren nur eine kleine Gruppe, denn noch durften keine Gäste aus dem Ausland nach Israel einreisen. Und so standen wir als kleiner Kreis am frühen Morgen um das Osterfeuer auf dem Kirchenvorplatz. Noch war es stockfinster als wir mit der brennenden Osterkerze in die dunkle Kirche einzogen, wie es die Osternachtfeier vorsieht. In der Kirche erklang dann das Exsultet – dieser einmalige alte Gesang zum Lob der Kerze und des Lichtes in der Dunkelheit.
Später, zum zweiten Teil des Gottesdienstes ging es zum Seeufer, wo wir den Sonnenaufgang erwarteten. Und mir fiel der letzte Satz aus dem Gesang, dem Exsultet, wieder ein:
Diese Kerze soll leuchten „bis der Morgenstern erscheint, jener wahre Morgenstern, der in Ewigkeit nicht untergeht.“
Ja, die Osterkerze leuchtete noch, als der Morgenstern über den Golanhöhen sichtbar wurde.
Aber in dem alten Gesang der frühen Christen ging es ja anscheinend um etwas anderes. Sie hofften, dass in einer Osternacht das Ende der Welt komme, dass ein ewiger Morgen anbreche.
Und so dachte ich an jenem Morgen: Vielleicht ist mit dem Erscheinen des wahren Morgensterns, der in Ewigkeit nicht untergeht, ja ein Tagesanbruch gemeint, der ewig, d.h. immer, immer wieder passieren kann. Vielleicht geht es um einen Schimmer, der mir die Hoffnung gibt, dass auch die scheinbar „ewige“ Nacht in meinem Leben – und im Leben eines jeden Menschen – irgendwann enden wird.
Friedolin Stier, ein schon lang verstorbener Bibelwissenschaftler, hat diese Hoffnung einmal in seinen Tagebüchern formuliert. Da heißt es:
Sprecher:
Vielleicht ist irgendwo Tag
Vielleicht… Aus dem Spalt
in der Wand des Alls
in das finstre Verlies
Brach plötzlich
o schön!
ein Schein und schwand.
Ist vielleicht?
Ist irgendwo?
Vielleicht ist
Irgendwo
Tag.[1]
Übrigens: Die Herausgeber der Tagebücher von Friedolin Stier fanden den ersten Vers so treffend, dass sie ihn als Titel für das gesamte Tagebuch gewählt haben: „Vielleicht ist irgendwo Tag.“ Das Buch steht seit vielen Jahren in meinem Bücherregal, und wenn ich nur darauf blicke, erinnere ich mich, wie mich dieser Vers berührt hat, als ich ihn zum ersten Mal las, denn hier ringt einer mit seinem Glauben:
„Vielleicht – vielleicht ist irgendwo Tag.“
Für mich hat Ostern mit diesem Tag zu tun: Ostern ist dieser glänzende Schein – ist sozusagen selbst der Morgenstern, während es drumherum noch stockfinster ist, ein leuchtender Stern, der sagt: Ja!
Aus Tabgha grüßt Sie Georg Röwekamp.
[1] Friedolin Stier, Vielleicht ist irgendwo Tag, Freiburg 1994, 108.