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Das Geistliche Wort | 07.05.2023 | 08:40 Uhr

Gelegenheit Leben

Wenn Sie zur arbeitenden Bevölkerung gehören, dann haben Sie sich sicher auch über den vergangenen Montag gefreut. Tag der Arbeit – also: arbeitsfrei.

Seit knapp einem halben Jahr bin ich Geistliche Leiterin der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung im Bistum Münster. Und seitdem denke ich noch mal neu und anders nach über die Arbeit an sich. Und da fand ich es schon fast erschreckend, was mir eine Freundin gesagt hat. Die ist 34 und bricht morgen auf mit ihrem Mann und den zwei Kindern zu einer längeren Reise: 9 Wochen im Wohnmobil, quer durch Spanien und Portugal. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich find die Auszeit total klasse, die sie sich nehmen. Aber erschreckt hat mich die Perspektive, unter der mir die Freundin davon erzählt hat: „Jetzt haben wir noch einmal zusammen Elternzeit. Im nächsten Jahr kommt der Große in die Schule. Das war es dann – bis wir im Ruhestand sind.“ Ja ist das wirklich die letzte Gelegenheit? Nach der „Elternzeit“ nur noch die Arbeitszeit – bis zum Ruhestand? Wieder einmal wird mir bewusst, wie sehr die Arbeit unser Leben bestimmt. Zu sehr?


Musik I:
Asaf Avidan, One Day


Arbeit und Leben: Der streitbare Philosoph Friedrich Nietzsche hat dazu einen Satz parat:


Sprecher:

In allen Augenblicken, wo wir unser Bestes tun, arbeiten wir nicht. Arbeit ist nur ein Mittel zu diesen Augenblicken.[1]


Der Satz sitzt. Und er dürfte Widerspruch wecken: Arbeit nur als Mittel zum guten Leben, statt als Teil dessen?! Viele Menschen erleben das anders – sie haben Berufe, in denen sind sie in ihrem Element. Oft erleben sie im Beruf Selbstwirksamkeit. Aber gleichzeitig berichten mehr und mehr Menschen davon, dass die Arbeit sie erdrückt. Dass das Lebensrad zum Hamsterrad wird. Die Arbeit zum Sargnagel.

Ganze 14.000 Kommentare bekam ein Post des WDR in den Sozialen Medien. Darauf zu sehen: Ein Schreibtischstuhl in Sargform, gestaltet von einem britischen Designer, der ihm den Namen „die letzte Schicht“ gab[2]. Da braucht es kein um die Ecke denken mehr: Wer nur noch am Schreibtisch klebt, ist womöglich schon mitten im Leben wie tot. Das Bild zeigt auf, was so viele von uns erleben, nämlich, dass die Arbeit mit immer mehr Anforderung und Bedeutung aufgeladen wird. Menschen werden immer mehr zum Mittel, um Arbeit zu erledigen, als dass die Arbeit Mittel dazu wäre, wirklich unser Bestes zu erleben. Die arbeitende Bevölkerung: im Dauerstress...


Musik II: Herman van Veen: Weg da


Bücher zum Thema Arbeitsstress füllen Regale. Im vergangenen Jahr sorgte die Journalistin Teresa Bücker für Reaktionen mit ihrem Buch „Alle Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“. Ihrer Theorie nach Zeit ist immer da, aber der heutige Mensch hat kaum noch Macht darüber, was er mit der Zeit machen kann. Bei mir regt sich Zustimmung und Widerstand. „Wem gehört sie denn, die Zeit, wenn nicht uns?“ frage ich mich. Die Frage ist, womit wir sie füllen. Meine Freundin und ihre Familie haben sich für diese bewusste Auszeit entschieden. Ich selbst habe das im letzten Jahr auch gemacht. Aber das kann sich natürlich nicht jeder leisten – und jede auch nicht. Sich wenigstens für zwei gute Monate mal nicht zu viel Gedanken zu machen über die Arbeit – ist das ein Minimum an Lebensqualität oder nicht schon ein Luxus an sich? Wie viele Menschen müssen mittlerweile zwei Jobs und mehr erfüllen. Damit es zum Leben reicht. Hier von Work-Life-Balance zu sprechen, das klingt fast nach Hohn….

Aber…Wissen Sie was: Ich möchte Ihnen von einem Menschen erzählen, der beeindruckt mich sehr. Und das nicht, weil er fast immer denselben, mittlerweile etwas abgetragenen Pulli trägt, wenn ich ihn sehe. Und ich bin mir auch darüber im Klaren: Sein Weg wird nicht Ihr Weg sein. Denn er ist Priester. Aber: Er hat an einem Punkt in seinem Leben eine Wahl getroffen – die finde ich stark.

Andreas Knapp ist Doktor der Theologie und wurde schon in jungen Jahren Leiter des Priesterseminars in Freiburg. Früh bekam er Verantwortung. Und damit die Möglichkeit, unendlich viel zu arbeiten. Denn auch das kann einem zur Falle werden: Neben den fehlenden Kolleg*innen, der schlechten Personalplanung, der miserablen Bezahlung oder den großen Aufgabenbergen, die sich immer wieder anhäufen, kann auch die Freude an der Arbeit dazu führen, dass wir nicht mehr von ihr lassen. Wie ich Andreas Knapp bei Begegnungen verstanden habe, hatte er Freude an seiner Arbeit – aber zugleich merkte er, dass er sich eben nicht wirklich treu ist dabei. Er wollte nicht länger entatmet an dem vorbeileben, was seins ist.


Musik III: Pat Metheny, Travels


„In allen Augenblicken, wo wir unser Bestes tun, arbeiten wir nicht.“ Wie mag dieser Satz von Nietzsche klingen in den Ohren eines Priesters, der quasi dauernd im Dienst ist, vor allem in einer Position, wie Andreas Knapp sie innehatte? Jedenfalls hat Knapp sich für einen Cut entschieden. Er hat das Priesterseminar verlassen und ist einer geistlichen Gemeinschaft beigetreten, in deren Zentrum steht die Spiritualität vom „verborgenen Leben“. So nennen die „Kleinen Brüder Jesu“ ihren Dienst. Und das bedeutet: nicht die große Bühne suchen – auch nicht als Priester, sondern erst einmal arm werden – im wahrsten Sinne. Und so galt es für Andreas Knapp, sich von all dem zu trennen, was er so angehäuft hat. Er verschenkte und verkaufte seinen Besitz. „Entsorgen“ nennen wir das – und ich finde diesen Begriff so passend: Ich finde es selbst so befreiend, Dinge in „Zu verschenken“-Regale“ zu stellen. Wann immer ich mit leerem Auto den Recyclinghof verlasse, seufze ich erleichtert auf. Tiny-House-Besitzer*innen kennen das. Immer mehr Menschen interessieren sich ja dafür, ihr Leben, ihre Zeit wieder mehr in Besitz zu nehmen, statt sich in Besitz nehmen zu lassen. Andreas Knapp hat das Priesterseminar damals verlassen mit einem Rucksack. Alles, was wichtig war, musste da hineinpassen. Passt da hinein.


Musik IV: Pat Metheny, Going ahead


Andreas Knapp lebt heute mit seinen Mitbrüdern in einer schlichten Plattenbauwohnung in Leipzig. Und klar: er arbeitet immer noch. Jahrelang hat er Pakete am Fließband gepackt – genau so viele Stunden am Tag, wie er es brauchte, um die Miete zu bezahlen, Essen zu kaufen, um andere zu unterstützen. Nach dieser Devise arbeiten alle Mitbrüder in ganz einfachen Berufen – objektiv gesehen: finanziell eher an der Armutsgrenze. Und mit der übrigen Zeit, da gehen sie dem nach, was ihrs ist. Arbeiten ehrenamtlich, lesen, schreiben, musizieren. Und sie beten. Ihre Entscheidung, finanziell bescheiden zu leben, verschafft ihnen Freiheiten. Freiheit, dem Raum zu geben, was noch gelebt werden will. Und Andreas Knapp hat seitdem wieder Zeit, mit das Beste zu tun, was er kann – finde ich jedenfalls. Er schreibt nämlich wunderbare Gedichte. Sie wollen mal hören, wie das klingt? Dieses hier finde ich grad ungemein passend:


Sprecher:

Realpräsenz

am blühenden Baum

nicht entatmet vorüberhasten

einen Augenblick lang

stehen und staunen


den duftenden Kaffee

nicht gedankenlos hinunterstürzen

einen Schluck lang

schmecken und kosten


die Stimmen in mir

zum Schweigen bringen

um ganz Ohr zu sein

wenn du mir erzählst


nicht im Vergangenen verbleiben

nicht ins Künftige auswandern

ganz hin und weg sein

und darin ganz da


leben

in der reinen

Gegenwart

sie ist Gottes[3]


Andreas Knapp formuliert in diesem Gedicht, was er wohl selbst immer wieder zu leben versucht: Den Wunsch nach mehr Gegenwärtigkeit. Und das trotz und mit all dem, was das Leben uns so abverlangt. Mit dem Entschluss, ein Leben zu führen, das in einen Rucksack passt, hat Andreas Knapp sich seiner Zeit wieder ermächtigt. Das klingt für mich nicht nach einem sorglosen Leben aber nach einem, das reicher an Möglichkeiten ist, als so manches andere. Auch als meins. Denn: So gerne ich auch Überflüssiges entsorge – das, was ich für notwendig halte, ist immer noch ziemlich viel. Ich komme längst nicht auf einen Rucksack. Auch um meine Zeitmächtigkeit ist es nicht gut bestellt. Und ich ahne, dass das falsch ist.


Musik V: Pat Metheny, It’s for you


„In allen Augenblicken, wo wir unser Bestes tun, arbeiten wir nicht“, hat Nietzsche gesagt. Und Jesus hat im Lukasevangelium fast so etwas Ähnliches gesagt. So deute ich jedenfalls den entscheidenden Satz in der Geschichte von den ungleichen Schwestern Marta und Maria. Die finden Sie im Lukasevangelium, Kapitel 10: Als Jesus mit seinen Freunden bei den beiden zu Gast ist, läuft Marta zwischen Küche und Gästen hin und her, ganz von ihrer Fürsorge eingenommen. Niemand soll hungrig bleiben. Für ihre Schwester Maria ist diese Sorge grad nicht wichtig. Sie hat sich an den Füßen von Jesus niedergelassen und hört zu. Als wäre sie Gast in ihrem eigenen Haus. Marta geht das gehörig auf den Zeiger und sie herrscht Maria unwirsch an und will, dass Jesus für sie Partei ergreift. Jesus aber entgegnet der wütenden Marta: „Maria hat das Bessere gewählt“. Maria tut ihr Bestes, indem sie gerade nicht arbeitet. Sie ist sozusagen bei sich zu Gast, indem sie sich treu ist, treu dem, was ihr wichtig ist, woraus sie lebt. Sie bemächtigt sich ihrer Zeit.

Wenn ich ehrlich zu mir bin: Ich bin oft wie Marta. Ich arbeite gerne, wirklich gerne. Aber eben auch oft zu viel und aus den für mich falschen Gründen. Das sind die Zeiten der unzufriedenen Marta in mir. Denn ich kann mir vorstellen, Marta war womöglich gerne Gastgeberin. Aber an diesem Abend, da wurde sie wütend, weil sie sich mit ihrer gewohnten Tüchtigkeit im Weg stand. Weil sie aus Gewohnheit falsche Prioritäten setzte und die Gelegenheit verpasste, wahrzunehmen, wer da in ihrem Wohnzimmer sitzt. Sie lief sozusagen entamet an Jesu Gegenwart vorbei.

O, wie gut ich das kenne! Und je mehr wir uns in diese „Immer-mehr-Arbeitslogik“ verstricken, desto mehr leiden eben auch die Menschen um uns, für die wir keine Zeit mehr finden. Und oft leidet irgendwann auch unser Empfinden für Gottes Gegenwärtigkeit. Die Prioritäten verschieben sich: Der Bürostuhl, die Werkbank, der Fahrersitz, der Arbeitskittel, die Uniform werden zum Hauptakteur unserer Zeit, unserer Aufmerksamkeit. Der Schreibtischstuhl droht zum Sarg zu werden. Aber: das muss nicht so sein. Wir müssen nicht an unserem Leben entatmet vorüberhasten.

Viele von uns haben schon jetzt durchaus Möglichkeiten, sich ihrer Zeit wieder mehr zu ermächtigen. Und in der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung arbeite ich mit vielen anderen daran, dass das irgendwann jedem Menschen möglich ist, weil niemand mehr prekär arbeiten muss. Weil Arbeit zum Leben gehört, es aber nicht erdrückt.


Musik VI: Billy Joel, My Life


Mein Name ist Michaela Bans. Ich arbeite im Bistum Münster und ich wünsche mir und Ihnen die Kraft der Selbstermächtigung, um unser Leben so zu führen, dass wir uns darin zuhause fühlen.



[1] https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_friedrich_wilhelm_nietzsche_thema_leistung_zitat_13507.html

[2] https://z-upload.facebook.com/wdr2/posts/5853599121339414

[3] Andreas Knapp, aus: „Brennender als Feuer“ Geistliche Gedichte von Andreas Knapp, Echter-Verlag 2014.

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