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Das Geistliche Wort | 21.05.2023 | 08:40 Uhr

„Was ist dir heilig?“

Guten Morgen!

Seit der Flut im Ahrtal sind fast zwei Jahre vergangen. Damals ist auch eine Aktentasche kaputt gegangen. Jetzt werden wahrscheinlich einige denken: „Eine Aktentasche? Was ist das im Vergleich zu den Menschen, die dort gestorben sind oder zu den anderen materiellen Schäden; zu den Existenzen, die durch die Wassermassen zerstört wurden? Und der redet von einer Aktentasche?“

Ja, das ist richtig. Und trotzdem möchte ich Ihnen gerne erzählen, was es mit dieser Tasche auf sich hat. Denn ich verbinde damit etwas Persönliches.

Musik I: Todd Hallawell, Robin Kessinger, Eleanor

Es ist schon 20 Jahre her. Es ist an einem Montagabend. Mein Vater kommt aus dem Büro und stellt seine Aktentasche in der Wohnung ab – wie jeden Abend. Am nächsten Morgen wird er sie wieder nehmen, zum Bahnhof gehen und ins Büro fahren. Aber es kommt anders: Für ihn wird es keinen nächsten Morgen mehr geben. In der Nacht stirbt er plötzlich. Seine Tasche, die bleibt mehrere Monate unangetastet an dem Ort stehen, wo er sie abgestellt hat. Und selbst als sie nach langer Zeit ihren Weg in den Keller findet, bleibt sie uns wichtig – es ist ja die Aktentasche meines Vaters.

Im Juli 2021 gelangen die Hochwassermassen auch in den Keller meines Elternhauses, das nicht weit von der Ahr entfernt ist. Als das Wasser zurückgeht liegt im stinkenden Schlamm auch die Tasche meines Vaters. Und plötzlich ist alles wieder da: Mit der Tasche kommt die Erinnerung – an ihn und an die Zeit vor 20 Jahren, als er noch da war.

So ist es vielen Menschen ergangen an der Ahr und in den anderen Orten im Westen Deutschlands. Das Wasser hat so vieles genommen: Menschen, Häuser, materielle Dinge, aber eben auch Erinnerungen: Mitbringsel von Reisen aus fernen Ländern, Fotos aus Kindertagen, das Nummernschild des ersten Autos, Liebesbriefe oder das erste Spielzeug der Kinder.

Äußerlich sind das alles nur banale Dinge. Für das eigene Leben haben sie aber oft eine tiefe Bedeutung; sie sind ein richtiger Schatz. Denn all diese Dinge erzählen eine ganz persönliche Geschichte.

Sie halten einen Augenblick des eigenen Lebens fest, den man nicht missen und hergeben will. Der Materialwert kann bei Null liegen und doch sind diese Gegenstände so wertvoll.

Für mich ist das die Aktentasche meines Vaters. Sie bezeugt plötzlich eine lebendige Geschichte, fängt an zu erzählen, von seiner Arbeit, aber auch von seiner Freizeit, wenn er sie abgestellt hat. Allgemeiner gesagt: Hinter einem einfachen Gegenstand öffnet sich auf einmal ein ganzer Horizont mit Höhen und Tiefen, was das Leben bereichert und gestärkt hat oder genauso was es gelähmt hat. Mir ist die Tasche meines Vaters ein wichtiges Erinnerungsstück an ihn geworden – ja ich würde sogar sagen, sie ist etwas Besonderes für mich.

Musik II: Michael Patrick Kelly, Holy

Auch das ist schon wieder ein paar Jahre her. Ich war Kaplan in einer Gemeinde in der Nähe von Aachen. Bei einem der regelmäßigen Treffen mit denjenigen, die sich auf die Firmung vorbereiten, habe ich die Jugendlichen einmal gebeten: „Bringt zum nächsten Mal bitte etwas mit, das euch ‚heilig‘ ist.“ Sie können sich vorstellen: Zunächst habe ich in völlig verdutzte Gesichter geschaut. Aber ich wollte die Bitte bewusst nicht konkretisieren oder Beispiele nennen. Jeder sollte für sich überlegen, was ihm persönlich ‚heilig‘ ist. Und zum nächsten Treffen haben die Jugendlichen ganz unterschiedliche Dinge mitgebracht: ein Foto der Familie, eine Kette, die das Mädchen von ihrer Oma geschenkt bekommen hat und ein spanisches Wörterbuch, das einen Jungen an die Herkunft seiner Familie erinnert. All das war diesen Jugendlichen ‚heilig‘.

Vermutlich hätten sie selbst diese Gegenstände nie ‚heilig‘ genannt. Aber sie hatten ein Gespür dafür, was etwas Besonderes ist und was ich wohl mit diesem Wort ‚heilig‘ meine.

Das Wort ‚heilig‘ wird ja in fast allen Religionen verwendet. Orte, Gotteshäuser und Tempel, Gegenstände und Personen werden da als heilig bezeichnet. Aber sie sind es nicht von sich aus, sondern sie sind dann heilig, wenn sich in ihnen etwas von der Heiligkeit eines anderen widerspiegelt, nämlich der Heiligkeit Gottes.

In diesem Sinne sind im Judentum die Reste der Westmauer des Jerusalemer Tempels heilig, die heute als ‚Klagemauer‘ bekannt ist. Im Islam gilt Mekka als heilig, es ist ja der Geburtsort des Propheten Mohammed. Und im Christentum werden Israel und Palästina, wo Jesus gelebt und gewirkt hat, das „Heilige Land“ genannt. Immer ist das Heilige das Besondere, weil es über sich hinaus auf etwas Größeres verweist!

Für mich ist dieses viel Größere letztlich Gott. Und ich finde es interessant, wie viele Menschen sich nach greifbaren und sichtbaren Gegenständen sehnen, die etwas von der Heiligkeit des viel Größeren in unserer Zeit repräsentieren. Anders lässt sich für mich zum Beispiel nicht erklären, warum sich Menschen auf den Weg zu solchen heiligen Orten und Gegenständen machen. Sie gehen auf Wallfahrt und pilgern – und das nicht erst, seitdem Hape Kerkeling auf dem Jakobsweg gepilgert ist und es sein Buch „Ich bin dann mal weg“ in die Bestsellerlisten geschafft hat.

Musik III: Paco De Lucia, Entre dos aguas

Pilgern ist nach wie vor in. Hierhin nach Kornelimünster in Aachen, wo ich heute Pfarrer bin, werden sich auch in diesem Jahr viele Menschen auf den Weg machen. Kornelimünster zählt neben Aachen selbst und Mönchengladbach zu den drei Zielen der sogenannten Heiligtumsfahrten im Bistum Aachen. Denn an diesen drei Orten –werden besondere Heiligtümer verehrt, Stoffreliquien, die auf biblische Geschichten verweisen. Die Stoffe sollen nämlich mit Jesus, Maria und Johannes dem Täufer in Berührung gekommen sein.

Die Stoffreliquien, die in Aachen und Kornelimünster verwahrt werden, soll schon Karl der Große um das Jahr 800 geschenkt bekommen haben, und zwar vom Patriarchen in Jerusalem.

Und seit dem Jahr 1349 werden alle sieben Jahre an beiden Orten die insgesamt sieben Stoffreliquien, die sogenannten Heiligtümer der Öffentlichkeit gezeigt.

Und da ist es wieder: das Heilige; das, was Menschen besonders wertvoll und wichtig ist. Klar, ich kann mir nur die Stoffe anschauen und mir die Frage stellen: „Sind die denn echt?“ Ich kann aber auch dahinter schauen und dann öffnet sich plötzlich wieder der weitere Horizont. Dann kann ich mir das Leben, Leiden und Sterben von Jesus vorstellen und komme damit auch dem Glauben an seine Auferstehung näher.

Wie viele Menschen werden über die Jahrhunderte hindurch wohl an diese Orte gekommen sein, um diese Stoffe zu schauen? Sie wollten etwas von der Wirklichkeit sehen und damit noch viel weiter. Denn auch hinter diesen Stoffreliquien steckt noch eine andere Wirklichkeit, die viel größer ist als das, was meine eigenen Augen sehen können und mein einzelner Verstand begreifen kann.

Übrigens: Die Wallfahrten konnten sogar eine politische Dimension entwickeln: So wurde die Heiligtumsfahrt 1937 ein „stummer Protest“ gegen das nationalsozialistische Regime. Obwohl es zahlenmäßig eine der meistbesuchten Heiligtumsfahrten war, wurde sie von der Nazipresse totgeschwiegen.

Coronabedingt findet erst in diesem Jahr, das heißt neun Jahre nach der letzten Heiligtumsfahrt, wieder eine Wallfahrt nach Aachen, Kornelimünster und Mönchengladbach statt. Dann werden die Stoffreliquien wieder der Öffentlichkeit gezeigt. Und als Motto über dieser Wallfahrt wird eine Frage stehen: „Für wen haltet ihr mich?“ Die Frage stammt aus dem Matthäusevangelium, wo es heißt (Mt 16,13-16):

Sprecher:

„Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: Für wen halten die Menschen den Menschensohn? Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“

Ich will nicht gleich lautstark wie Petrus antworten, aber für mich stellt sich die Frage nach wie vor ganz konkret: „Wer ist Jesus für mich?“, so könnte die Frage auch heute lauten.

Musik IV: Michael Fix, Sleepy head

Für wen halte ich Jesus? Es geht bei dieser Frage nicht nur darum, welches Bild ich von Jesus habe. Die Frage reicht viel weiter: Welches Bild habe ich überhaupt vom Menschen? Beeindruckt mich nur der äußere Schein, hochpoliert, wie er in der Regenbogenpresse, den sozialen Medien oder in so mancher Doku-Soap erscheint, oder schaue ich wie bei dem, was mir heilig ist, auch dahinter? Was macht mein Gegenüber eigentlich aus? Und bin ich bereit, mich von den Menschen, die mir begegnen, noch überraschen zu lassen? Jeder Mensch – so die biblische Vorstellung – ist doch ein Abbild Gottes, und das macht seine einmalige, unverlierbare Würde aus und letztlich seine Originalität und damit auch seine Heiligkeit. „Für wen haltet ihr mich?“ Das Motto der Heiligtumsfahrten 2023 in Aachen und Kornelimünster ist für mich eine Einladung im Anderen etwas von Gott zu entdecken, sich von ihm berühren zu lassen: originell und überraschend, anders, als ich es vielleicht erwarte.

Musik V: Justin Bieber, Holy

Sich von Gott durch andere Menschen berühren zu lassen, darum geht es letztlich bei den Heiligtumsfahrten 2023 in Aachen, Kornelimünster und Mönchengladbach, die Ende Mai bzw. ab dem 9. Juni beginnen.

Für mich wird das durch eine der Stoffreliquien noch einmal ganz konkret, die mir persönlich sehr heilig ist. Es ist das sogenannte Schürztuch Jesu und befindet sich in der Propsteikirche in Kornelimünster, wo ich Pfarrer bin.

Dieses Schürztuch ist aus starken Leinenfäden gewebt und etwa 2,30m lang. Seine Form und die Art der Webung lassen darauf schließen, dass es angefertigt wurde, um es sich wie eine Schürze umzugürten und etwas damit zu trocknen. Der Überlieferung nach hat sich Jesus dieses Tuch umgebunden, als er mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl gehalten und ihnen die Füße gewaschen hat. Im Johannesevangelium wird das so beschrieben (Joh 13, Auszüge):

Sprecher:

„Es war vor dem Paschafest. Jesus stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war. (…) Als er ihnen die Füße gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte, sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? (…) Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“

Die Fußwaschung war zurzeit Jesu eine hygienische und kultische Maßnahme und sie symbolisierte, dass ein Gast willkommen war. Man kann es gut nachvollziehen: Anderen den Staub und den Schweiß von den Füßen zu waschen, das war eh ein Job für Diener und Sklaven. Was für eine verkehrte Welt! Jesus überrascht dadurch, dass er sich zum Diener macht. Und genau das trifft die Frage des Wallfahrtsmottos: „Für wen haltet ihr mich?“ Die Jünger sehen in Jesus den Lehrer, den Herrn und Meister. Und dann ist er es aber, der sich vor ihnen hinkniet und ihnen die Füße wäscht. – Und für wen halte ich ihn?

In wenigen Tagen werden tausende Menschen nach Kornelimünster kommen, um dieses Schürztuch zu sehen, das – wie die anderen Heiligtümer – hier und im Aachener Dom gezeigt wird. Und dieses Schürztuch steht dann auch für den Auftrag Jesu, selbst zum Diener der anderen zu werden. Denn er sagt ja – wie ein Vermächtnis (Joh 13,15): „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“

Und so sehe ich in diesem Tuch auch wieder etwas Besonderes, dass mich weiter schauen lässt, eben den Horizont weitet und mich fragt: Wenn Jesus anderen Menschen geholfen und gedient hat, was kann ich dann heute tun?

Es fängt mit einem anderen Blick auf jeden Menschen an: Halte ich denjenigen, der mir begegnet, für ein Abbild Gottes, das mir heilig ist? Oder für wen halte ich ihn? Ist er Knecht oder Herr? Ist er Fremder oder Freund, Flüchtling oder Nachbar?

Mit all diesen Fragen und dem Vorbild von Jesus kann ich in diesem Schürztuch wirklich etwas davon entdecken, was weiter reicht über meine eigenen Denkmuster hinaus.

Musik VI: Tavy Hillsong United, Holy, holy, holy

Was immer ihnen heilig ist. Ich wünsche Ihnen, dass Sie immer wieder weiter sehen. Und vielleicht kommen Sie ja nach Aachen, Kornelimünster oder Mönchengladbach zur Heiligtumsfahrt um dort mehr zu sehen.


Einen guten und gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Pfarrer Andreas Möhlig aus Kornelimünster.

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