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Kirche in WDR 5 | 06.07.2023 | 06:55 Uhr

Mehr als nur eine Kirche

Notre-Dame in Paris ist mehr als eine Kirche. Und es gibt wenige Sakralbauten, bei denen mehr Emotionen mitschwingen, wenn ich allein schon deren Name höre. Und das hat auch mit jenem Montag in der Karwoche 2019 zu tun. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Bei uns daheim, in Köln-Merheim, da trocknete es gerade nach einem Wasserschaden. Während ich dabei war, die Regale im Arbeitszimmer mit Büchern zu befüllen, rief meine Frau aus dem Wohnzimmer: "Notre-Dame brennt!" – Ich konnte oder wollte diese Nachricht irgendwie nicht so recht realisieren. Den Rest des Abends habe ich dann mit eingeschaltetem Livestream aus Paris verbracht und konnte erst zu Bett gehen, als es gegen 23 Uhr hieß, die Gebäudestruktur sei gesichert.

Auf den Brand von Notre-Dame folgte ja eine ungewöhnlich hohe Welle der Solidarität und Anteilnahme aus dem In- und Ausland. Spendengelder und Zuwendungen in Millionenhöhe wurden zugesagt, selbst von Menschen oder Institutionen, die mit Kirche und Religion wenig am Hut haben. Ausgerechnet im laizistischen Frankreich sorgt ein religiöses Bauwerk für so große Emotionen. Warum eigentlich?

Notre-Dame ist mehr als nur eine Kirche. In ihr spielt sich das Gedächtnis einer ganzen Nation und darüber hinaus ab. Zur Zeit ihrer Entstehung, ab dem 12. Jahrhundert, war Paris bereits ein bedeutendes Zentrum für Bildung. An den verschiedenen Lehreinrichtungen wie der Domschule um Notre-Dame herum, aber auch in den verschiedenen Klöstern lehrten bedeutende Köpfe ihrer Zeit. Paris war zu dieser Zeit so etwas wie das Gehirn Europas. Und so verwundert es auch nicht, dass hier mit der Gotik ein neuer Baustil entstand, der in der Folgezeit den ganzen Kontinent erobern sollte. Denn wie der Mensch denkt, so baut er auch.

Und dann kam die Französische Revolution. Notre-Dame wurde als Symbol des alten Systems zum Feindbild. Sie wurde zum "Tempel der Vernunft" umgewidmet. Dabei gingen auch fast alle ihrer etwa 20 Glocken unter. Nur der Emmanuel, die größte Glocke von Notre-Dame, blieb erhalten. Sie war 1685 auf Befehl König Ludwigs des Vierzehnten von drei Gießern aus Lothringen gefertigt worden und ist mit 13 Tonnen Gewicht eine der größten und klangvollsten Glocken Europas. 1996 habe ich sie an Pfingsten zur Vesper erstmals live gehört. Zusammen mit drei weiteren Glockenfreunden bin ich damals eigens in die Hauptstadt Frankreichs gefahren, um diese Glocke zu hören…jetzt können Sie vielleicht etwas erahnen, wie mir diese Kirche am Herzen liegt – und ihr Geläut im Ohr.

Wie gesagt: Eben dieses Geläut schwieg lange nach den Wirren der Revolution. Dann aber: 1831 wurde Notre-Dame durch einen Roman aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Victor Hugos "Der Glöckner von Notre-Dame" ist mittlerweile ja auch schon mehrfach verfilmt worden. Mit diesem Roman weckte Hugo aufs Neue das Interesse an diesem mittlerweile verwahrlosten Bauwerk. In den folgenden Jahrzehnten wurde Notre-Dame aufwendig restauriert und erlebte eine unglaubliche Renaissance. Auch der Emmanuel erhielt wieder vier kleinere Schwestern, so dass das Geläut der Kathedrale zumindest fünfstimmig wurde.

Ein letztes großes Jubiläum für Notre-Dame gab es schließlich im Jahr 2013. Das gotische Bauwerk feierte seinen 850. Geburtstag, denn im Jahr 1163 begannen die Arbeiten am Chorraum. Als Geburtstagsgeschenk erhielt die Kirche dann auch wieder ein großes, repräsentatives Geläut. Zum Emmanuel gesellten sich neun neue Glocken, die auf die beiden Westtürme verteilt wurden. Und Sie können sich sicherlich denken, wo ich vor 10 Jahren war: Zusammen mit einem Freund bin ich damals an Christi Himmelfahrt in Paris gewesen, um das neue Geläut von Notre-Dame zu hören.

Notre-Dame ist mehr als eine Kirche – zumindest für mich. Es ist mehr als nur ein Haufen aus Steinen, es ist steinernes Gedächtnis unserer Geschichte. Wie der Mensch denkt, so baut er auch. Und um größer zu denken, brauchen wir auch heute solche Bauwerke.

Kommen Sie gut in diesen Tag, wünscht Ihnen Ihr Jan Hendrik Stens aus Köln!